War der Titelkampf in der Süper Lig in der vergangenen Saison noch bis zum letzten Spieltag offen, scheint er in dieser Spielzeit schon nach 26 Runden entschieden zu sein und könnte für eine Überraschung im türkischen Fußball sorgen: Trabzonspor steht mit 63 Punkten an der Spitze und hat einen Vorsprung von 14 Zählern auf Platz zwei. Die Verfolger lauten jedoch nicht, wie man mit Blick auf die Vergangenheit erwarten könnte, Besiktas, Fenerbahce oder Galatasaray, sondern Konyaspor (2.) und Adana Demirspor (3.). Eine Tabellenkonstellation, die vor dem Saisonbeginn so nicht absehbar war und für ein Novum sorgen könnte.
Seit 1985 haben die Istanbuler Top-Klubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray mit nur zwei Ausnahmen alle Meisterschaften unter sich ausgemacht. Lediglich Bursaspor (09/10) und Basaksehir (19/20) durchbrachen die Dynastie. Dass zumindest einer der drei Platzhirsche am Saisonende nicht zu den besten Drei gehörte, hat es seit der Einführung der Süper Lig 1959 noch nie gegeben. Das könnte sich in dieser Saison ändern: Während Fenerbahce (5.) und Besiktas (6.) noch in Richtung Europapokal-Plätze schielen, steckt Galatasaray (13.) im Niemandsland der Tabelle und musste sich teilweise sogar mit dem Thema Abstiegskampf befassen.
Gala ist auf Kurs, die schwächste Saison in der Vereinsgeschichte zu spielen. Erst einmal erreichten die „Löwen“ keine Endplatzierung im einstelligen Bereich, als 1982 lediglich Rang elf heraussprang. Dabei war „Cimbom“ in diese Spielzeit gestartet, um wieder nach der Meisterschaft zu greifen. Dafür wählte der Klub im vergangenen Sommer auf dem Transfermarkt eine untypische Herangehensweise und verlagerte den Schwerpunkt von Altstars auf junge Spieler mit Entwicklungspotenzial – nur drei der elf externen Neuzugänge waren älter als 24 Jahre (zur Übersicht). „Wir wollen nicht mehr in die Vergangenheit der Spieler investieren, sondern in deren Zukunft“, sagte der damalige Trainer Fatih Terim über die Aktivitäten auf dem Markt.
Aufgrund der veränderten Transferpolitik sorgte der türkische Rekordmeister mit 25,4 Millionen Euro für das höchste Minus der Liga. Investitionen, die sich bislang nicht bezahlt gemacht haben – ganz im Gegenteil. War der Klub mit fünf Spielen ohne Niederlage in die Saison gestartet, hat er in den vergangenen 15 Partien nur zwei Siege eingefahren. Der Vorsprung auf die Abstiegszone beträgt sechs Punkte, für das internationale Geschäft fehlen elf Zähler. „Die Fans haben das Recht, sauer zu sein. Wir erleben leider eine Saison, in der wir selbst an guten Tagen nicht gewinnen“, sagte Terim im vergangenen Monat, in dem sich die Wege zwischen dem Trainer und dem Klub zum bereits vierten Mal trennten.
Nachfolger wurde der Spanier Domènec Torrent, der in der Liga „gar nicht“ zurechtkomme, wie Lara Karacan, Content Creator Türkei bei Transfermarkt, sagt. Der frühere Assistent von Pep Guardiola blieb in seinen ersten sechs Spielen sieglos, ehe die Mannschaft jüngst bei Gözepte 3:2 gewann. Die Erwartungen an diese Saison waren laut Karacan wie gewohnt „hoch“, obwohl der Klub eine andere Strategie wählte. „Natürlich ist alles anders, wenn die Philosophie quasi auf den Kopf gestellt wird. Ein Umbruch dauert. Aber türkische Fans sind nicht gerade dafür bekannt, einen solchen Umbruch geduldig anzunehmen. Es entsteht ein großer Druck“, sagt Karacan.
Mit diesem kommen die „Löwen“ zurzeit nicht zurecht, was dazu führte, dass der Verein in der Wintertransferperiode wieder in alte Muster verfiel und in Erick Pulgar (28), Semih Kaya (30) und Bafétimbi Gomis (36) drei erfahrenere Spieler holte. Während Galatasaray in der Liga gegen den Abstieg kämpft und im Pokal bereits früh gegen den Zweitligisten Denizlispor ausschied, sorgt das Auftreten in der Europa League für positive Verwunderung. Dort erreichte „Cimbom“ in einer Gruppe mit Lazio Rom, Olympique Marseille und Lokomotiv Moskau als Erster die K.o.-Runde. Wie Karacan resümiert, werfe das sportliche Abschneiden „viele Fragen“ auf.
Ständiges Auf und Ab: Fenerbahce verpasst Meistertitel erneut
Im Gegensatz zu Galatasaray verpasste Stadtnachbar Fenerbahce in der Europa League das Weiterkommen und wurde in einer Gruppe mit Eintracht Frankfurt, Olympiakos Piräus und Royal Antwerpen Dritter, weshalb die „Kanarienvögel“ eine Klasse weiter unten in der Europa Conference League auf Slavia Prag treffen. Dort ging das Hinspiel 2:3 verloren. Fenerbahce steht im Vergleich zu den anderen Istanbuler Schwergewichten in der Süper Lig am besten da und teilt sich die Punktzahl mit Basaksehir (hat ein Spiel weniger absolviert) auf dem ersten Europapokal-Platz. Der lang ersehnte Wunsch nach der ersten Meisterschaft seit 2014 wird jedoch auch in dieser Saison nicht in Erfüllung gehen.
Dafür sind die Ergebnisse schlicht zu inkonstant, Fenerbahce schaukelt in der Tabelle auf und ab, vom ersten bis zum siebten Platz war schon alles dabei. Der Klub startete ebenfalls mit positiver Stimmung in die Saison: In den ersten achten Spielen feierte das Team um Kapitän Mesut Özil (33) sechs Siege und ein Remis, ehe die Form zu schwanken begann. Nach dem furiosen Auftakt waren die Resultate wechselhaft, erst am 25. Spieltag starteten die „Kanarienvögel“ wieder eine Siegesserie, die aktuell zwei Partien anhält. Als Konsequenz wurde der erst im vergangenen Sommer installierte Trainer Vítor Pereira kurz vor dem Jahreswechsel entlassen, Ismail Kartal folgte auf den Portugiesen.
Was schon unter Pereira zu sehen war, blieb unter Kartal bislang unverändert: Fenerbahce tut sich schwer gegen die Abwehrreihen der Konkurrenz. „Das größte Problem ist, dass die Torchancen ausbleiben“, sagt Karacan. Weil im Mittelfeld kreative Spieler fehlen, hängen die Stürmer Enner Valencia (32), Mergim Berisha (25) und Serdar Dursun (30), die zusammen für 16 der 40 Liga-Treffer sorgten, nicht selten in der Luft. Laut Karacan sollte „im Idealfall“ insbesondere Özil für die nötige Kreativität sorgen, doch „er ist über weite Strecken des Spiels noch immer ein Fremdkörper“. Seine Ausbeute von sieben Treffern wird aufgrund von drei Elfmetern ausgeschmückt.
In der vergangenen Transferperiode kehrte Ozan Tufan (26) auf Leihbasis vom FC Watford zu Fenerbahce zurück, wo der türkische Nationalspieler für Abhilfe in der Schaltzentrale sorgen soll. Dort war u.a. Max Meyer (26) lange glücklos geblieben, ehe es für ihn zum FC Midtjylland ging. So mühen sich die „Kanarienvögel“ zurzeit zu Punkten und bleiben zwar in Schlagdistanz ums internationale Geschäft, ohne jedoch einen großen Satz zu machen.
Besiktas: Champions-League-Debakel hat sportliche Konsequenzen
Ähnlich sieht das bei Besiktas aus, das in der Vorsaison im Herzschlagfinale der Süper Lig als Meister hervorging und obendrein den Pokalsieg feierte. Davon ist über ein halbes Jahr später jedoch wenig zu spüren: Die „Schwarzen Adler“ stehen knapp hinter Fenerbahce, der Rückstand auf die Europapokal-Plätze beträgt zwei Punkte. Mit großen Ambitionen war der Klub im vergangenen Sommer auf dem Transfermarkt aktiv, verpflichtete den bei TM gewählten Spieler der Saison Rachid Ghezzal (29) fest und holte u.a. Michy Batshuayi (28) sowie Miralem Pjanic (31) per Leihe. Namhafte Verstärkungen, mit denen sich der Klub für die Champions League rüsten wollte.
Ein Plan, der nach hinten losging. Stattdessen verloren die „Schwarzen Adler“ als einziger Teilnehmer alle Gruppenspiele und überwinterten daher nicht in einem internationalen Wettbewerb. Das schwache Abschneiden in der „Königsklasse“ wirkte sich auch auf die Leistungen in der Süper Lig aus: In der Zeit, in der die Gruppenphase ausgespielt wurde, holte die Mannschaft in der Liga nur drei Siege aus elf Partien und rutschte zwischenzeitlich auf Platz zehn ab. Als im vergangenen Dezember das Auswärtsspiel bei Borussia Dortmund 0:5 verloren ging, trennten sich die Verantwortlichen von Coach Sergen Yalcin. Damit wechselten erstmals seit der Saison 1975/1976 wieder alle drei großen Istanbuler Klubs innerhalb einer Spielzeit die Trainer.
Im Anschluss daran setzte der amtierende Titelverteidiger unter Nachfolger Önder Karaveli seiner Formkrise ein Ende und verlor nur eine Partie. Für den großen Angriff reichte es bislang jedoch nicht, da zahlreiche Duelle unentschieden endeten, häufig gegen Mannschaften aus den unteren Tabellenregionen. Die „Schwarzen Adler“ hätten sich Karacan zufolge bislang nicht „aus dem Tief befreien“ können. „Die Saison ist für viele, besonders für die Top-Stars, nicht mehr reizvoll“, sagt sie. „Ich denke, dass aufgrund des schlechten Abschneidens die Moral zerstört wurde.“ Zumindest auf Neuzugang Batshuayi ist regelmäßig Verlass, der mit 14 Torbeteiligungen in 29 Einsätzen interner Top-Scorer ist.
Trabzonspor rechnet mit Meisterschaft: „Uns erwartet ein sehr schönes Happy End“
Nutznießer der strauchelnden Drei ist Trabzonspor, das auf dem Weg zur ersten Meisterschaft seit 1984 ist. Der Klub vom Schwarzen Meer ist quasi schon immer einer der ersten Verfolger der Konkurrenz aus Istanbul, ohne sich jedoch von dieser absetzen zu können. Das änderte sich in dieser Saison, in der das Team von Abdullah Avci wohl auch bei Top-Leistungen der direkten Kontrahenten Titelchancen wahren würde. Mit 44 Treffern und nur 18 Gegentoren sorgt die Mannschaft vorne wie hinten für Bestwerte in der Süper Lig. Trabzonspor hat erst eine Niederlage einstecken müssen.
Der Angriff auf die Spitze erfolgte nicht erst bei ausbleibenden Ergebnissen von Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray, sondern war schon in der vergangenen Sommerpause gestartet worden. Ohne Hektik, dafür aber mit Gelassenheit und Cleverness baute sich der Verein „sehr früh“, wie Karacan sagt, den Kader für die neue Saison. Vor dem Liga-Start im vergangenen August war der Großteil der Neuzugänge bereits im Verein und konnte die Vorbereitung mitmachen, was aktuell „Früchte trägt“. Lediglich für Andreas Cornelius (28) und Manolis Siopis (27) wurden Ablösen fällig, während der Großteil der Neuzugänge zum Nulltarif kam (zur Übersicht), so auch die international erfahrenen Marek Hamsik (34) und Gervinho (34). „Die denken nach, wenn sie einen Transfer tätigen“, urteilt Karacan.
Die Türkei-Expertin erklärt die Strategie des Klubs: „Trabzonspor unterscheidet von allen anderen Klubs, insbesondere von den drei aus Istanbul, dass sie ihre Vision mit einem langfristigen Plan untermauern und umsetzen. Das langfristige Planen entspricht eigentlich nicht der türkischen Mentalität“, sagt Karacan lachend. In der Winter-Transferperiode legte der Klub nach, als 8 Mio. Euro für Neuzugänge ausgegeben wurden – mit deutlichem Abstand Höchstwert der Liga. Über 4 Mio. Euro investierte der Verein in Basaksehirs einstigen Meistermacher Edin Visca (31), der den verletzten Gervinho (Kreuzbandriss) ersetzen soll – was er auch tut, wie vier Treffer in sechs Spielen zeigen. So steigerte Visca seine Bilanz dieser Saison auf 17 Torbeteiligungen in 24 Einsätzen, womit er der zweitbeste Scorer der Liga ist. Auf Platz drei und vier folgen in Anthony Nwakaeme (32; 16 Torbeteiligungen) und Cornelius (15) zwei Teamkollegen.
Das sorgt für Gemütlichkeit bei den Verantwortlichen, die schon längst nicht mehr von der Meisterschaft träumen, sondern fest mit ihr rechnen. „Unsere Fans sollen ruhig und besonnen bleiben. Uns erwartet ein sehr schönes Happy End“, sagte Trainer Avci. „Am Ende werden wir es sein, die mit unseren Fans zusammen lachen.“ Vereinspräsident Ahmet Agaoglu ging gar einen Schritt weiter und sprach schon über die kommende Saison. „Die eigentliche Arbeit beginnt erst nach der Meisterschaft.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf transfermarkt.de
Autor: Pascal Martin