Jamie Vardy (32) führt die Torjägerliste der Premier League an und Leicester City liegt in der Tabelle nur zwei Punkte hinter Manchester City auf dem dritten Rang. Hört sich irgendwie nach der Saison 2015/16 an. Doch drei Jahre nach der Wunder-Meisterschaft unter Claudio Ranieri, drei Jahren der Mittelmäßigkeit, haben sich die „Foxes“ in die Spitzengruppe des englischen Oberhauses zurückgekämpft – mit einer geschickten Kaderpolitik und einem Trainer, der einst als gescheitert galt und mittlerweile mehr als rehabilitiert ist.
Als „Leicesters samtene Revolution“ bezeichnet Reporter Rory Smith in der „New York Times“ in Anlehnung an den friedlich verlaufenen politischen Umsturz im heutigen Tschechien und der Slowakei 1989 das, was bei Leicester in den vergangenen Jahren passiert ist. „Ruhig, respektvoll, aber auch rabiat.“
Nachdem der Klub aus den East Midlands zunächst nicht mehr auch nur ansatzweise an die Fabelform des Meisterjahres anknüpfen konnte, wurde der Kader sukzessive umgebaut und verjüngt. Mit Kasper Schmeichel (33), Wes Morgan (35), Christian Fuchs (33), Ben Chilwell (22), Daniel Amartey (24), Matty James (28), Marc Albrighton (29), Demarai Gray (23) und Vardy stehen noch neun Premier League-Champions von 2016 im aktuellen „Foxes“-Kader. Nur Schmeichel, Vardy und der damals gerade erst aus der Jugend hochgezogene Chilwell gehören zum Stammpersonal.
Während einige der Stars aus dem Meisterjahr nicht zu halten waren, allen voran N’Golo Kanté (28, Chelsea) und Riyad Mahrez (28, ManCity), wurden andere ehemalige Helden wie Shinji Okazaki (33) oder Danny Simpson (32) nach und nach aussortiert – aber immer mit Dankbarkeit und Respekt verabschiedet. Die neuen Gesichter bei Leicester heißen Jonny Evans (31), Ricardo Pereira (26), Youri Tielemans (22) oder James Maddison (22). Mit dem Nordiren Brendan Rodgers kam Ende Februar 2019 zudem ein Trainer, der in der Lage ist, das Talent seiner Spieler in ein erfolgreiches System zu transformieren.
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Brendan Rodgers: Leicesters detailversessener Trainer
„Rodgers gilt als akribischer und detailversessener Trainer mit großen Ambitionen, der seine Mannschaften auch menschlich erreicht“, beschreibt Daniel Busch, TM Area Manager UK, den nordirischen Coach. „Er steht für offensiven Fußball. Vielleicht kam der Liverpool-Job 2012 ein bisschen zu früh für ihn, allerdings hat er die Reds auch innerhalb von zwei Jahren von Platz acht kurz vor den Gewinn der Meisterschaft geführt, bevor Torschützenkönig Suárez verkauft wurde.“
Als Rodgers im Oktober 2015 bei den Reds von Jürgen Klopp abgelöst wurde, galt der heute 46-Jährige schon als gescheitert. „Bei Celtic, wo Rodgers zweimal das nationale Triple gewinnen konnte, hat er sich aber rehabilitieren können“, so England-Experte Busch. Rodgers etablierte bei Leicester ein 4-1-4-1-System und holte im Sommer mit Ayoze Pérez (26) und dem für die klubinterne Rekordsumme von 45 Millionen Euro nach Leihe fest verpflichteten Tielemans Spieler, die dort perfekt hineinpassen.
„Leicester spielt unter Rodgers deutlich intensiveren Fußball mit hohem und aggressivem Pressing. Das vertikale Spiel ist nun direkter und die Mannschaft kommt teils sehr schnell ins Angriffsdrittel“, beschreibt Area Manager Busch das Spiel der „Foxes“. „Die Außenverteidiger Chilwell und Pereira bringen sich dabei sehr offensiv ein, sodass in der Zentrale um Tielemans und Maddison oft Überzahl geschaffen werden kann. Auch Vardy profitiert von diesem schnelleren und direkteren Spiel, kann seine Geschwindigkeit nutzen und führt folglich die Torschützenliste an. Im Vergleich zu Teams wie Arsenal und Manchester United ist bei den „Foxes“ momentan ein klarer Plan zu sehen, mit einer Spielidee, die auf die Stärken der Mannschaft ausgerichtet ist.“
Vardy unter Rodgers fast auf Lewandowski-Niveau – Söyüncü brilliert
Wie Vardy von Rodgers profitiert, zeigt sich nicht nur in seinem Lauf in dieser Saison. Seit März hat mit Ausnahme von Robert Lewandowski (31) kein Spieler in den europäischen Top-10-Ligen noch häufiger getroffen als der ehemalige englische Nationalstürmer. 19 Tore erzielte Vardy seit dem 1.3.2019, Lewandowski schoss seitdem 23 Tore für den FC Bayern München.
„Die gesamte Mannschaft profitiert momentan von dem System“, erklärt Busch. Neben Vardy gilt in den vergangenen Wochen vor allem Caglar Söyüncü (23 als glänzendes Beispiel für den Aufschwung. Der ehemalige Freiburger war in der vergangenen Saison noch Innenverteidiger Nummer vier und hatte mit großen Anpassungsproblemen zu kämpfen. Rodgers behielt den Türken im Sommer aber bewusst im Team und setzt seit August auf ihn. Mit Erfolg: Den für die Verteidiger-Rekordsumme von 87 Mio. Euro nach Manchester gewechselten Harry Maguire (26) vermisst bei den „Foxes“ im Moment niemand mehr.
„Bei Leicester hat er es im ersten Jahr nicht leicht gehabt. Hier muss ich aber auf die Bedeutung seines Trainers aufmerksam machen. Er hat ihm nach dem Verkauf von Harry Maguire vertraut und ihn zu Einsatzzeiten kommen lassen. Caglar ist zurzeit einer der besten Innenverteidiger der Premier League“, lobte Söyüncüs Nationalmannschafts-Kollege Cenk Tosun (28, Everton) den Verteidiger im Interview mit „Gazetefutbol“. „Ihn erwartet eine großartige Zukunft.“
Ähnlich sieht es auch UK-Experte Busch, auch wenn er das Gesamtgefüge hervorhebt: „Die Mannschaft wirkt insgesamt sehr homogen momentan und Schmeichel, Evans und Vardy sind die Führungsspieler in der aktuellen Startelf. Nach dem Abgang von Maguire hat aber auch Söyüncü eine beeindruckende Entwicklung genommen, wohingegen Maddison und Tielemans im Mittelfeld ebenfalls nochmal Schritte nach vorn gemacht haben und von einem starken Wilfred Ndidi abgesichert werden.“
Trotz aller Intensität, trotz aller Vardy-Tore und trotz des überragenden 9:0-Auswärtssieges beim FC Southampton vor rund anderthalb Wochen ist die Defensive das Prunkstück der „Foxes“. Leicester weist eine Tordifferenz von +19 auf, nur ManCity ist in der Premier League in dieser Statistik noch besser. Dabei hat die Rodgers-Truppe gerade einmal acht Gegentreffer kassiert – ein Wert, mit dem sich nur Überraschungsaufsteiger Sheffield United messen kann.
ManUnited, Tottenham & Co. schwächeln: Leicesters perfektes Timing
Es scheint beinahe, als hätte Leicester den perfekten Zeitpunkt gefunden, die arrivierte Top-6 in England herauszufordern. ManUnited hat ohnehin seit Jahren mit Problemen zu kämpfen, doch auch Arsenal, Chelsea und vor allem Tottenham laufen den eigenen Ansprüchen hinterher oder befinden sich zumindest in einem derartigen Umbruch, wie bei den Blues, dass an höhere Ziele noch nicht zu denken ist.
Diese Entwicklung trotzt nicht nur den Abgängen von Starspielern oder den Trainerwechseln, sondern auch der Tragödie um den vormaligen Klubbesitzer Vichai Srivaddhanaprabha. Der thailändische Milliardär, der Leicester 2010 erworben hatte und seitdem aufgrund seiner respektvollen Art und seiner guten Führung bei den Fans geliebt wurde, kam Ende Oktober 2018 bei einem Helikopter-Absturz neben dem heimischen King-Power-Stadion ums Leben. Seinen Hattrick gegen Southampton widmete Vardy Srivaddhanaprabha.
„Er hat von uns nie Resultate verlangt“, sagte Torwart Schmeichel über den ehemaligen Klubchef, dessen Sohn Aiyawatt mittlerweile die Geschicke bei den „Foxes“ leitet (zitiert via „NZZ“). „Aber er hatte ein Mantra, und dieses lautete: ‚Solange ihr bis zuletzt kämpft, bin ich glücklich.‘“ Könnte er sein Team heute spielen sehen, wäre Srivaddhanaprabha vermutlich überglücklich. In englischen Medien wird im Falle Leicester schon von einer Wiederholung des Traumes von 2016 geschrieben – auch wenn der Klub, allen voran Rodgers, die Erwartungen Tag für Tag herunterspielt.
TM Area Manager Busch ist sich allerdings sicher, dass Leicester für eine Überraschung sorgen kann – zumindest, „wenn schwerere Verletzungen in der ersten Elf ausbleiben. Hinter der Stammelf fällt der Kader qualitativ teils deutlich ab und man hat auf vielen Positionen keine gleichwertigen Alternativen. Diese fehlende Breite könnte am Ende – trotz der fehlenden europäischen Belastung – noch zu Problemen führen.“
Solange das aber nicht der Fall ist, dürfen die Leicester-Fans träumen – in Anbetracht der Leistungen des FC Liverpool vielleicht nicht vom Titel, aber zumindest vom zweiten Einzug in die Champions League in der Klubgeschichte.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf www.transfermarkt.de
Autor: Marius Soyke