Fenerbahce gewann im vergangenen Heimspiel gegen Aytemiz Alanyaspor mit gerade einmal 29 Prozent Ballbesitz. Prompt kam es zu einem neuen Diskussionsthema in den türkischen Medien und unter den Fans. Ich konnte es kaum glauben, nach so langer Zeit wieder auf ein echtes Fußballthema in der Türkei zu stoßen. Und machte mich natürlich gleich ans Werk. Die lebende Real Madrid-Legende Emilio Butragueno sagte einst, dass es für namhafte Klubs nicht ausreichen dürfte, einfach nur zu gewinnen. Er war der Auffassung, sie müssen einem bestimmten Spielplan nacheifern. Als die Gelb-Marineblauen den Mittelmeer-Vertreter mit nur 29 Prozent Ballbesitz besiegten, gab es wie bereits erwähnt reichlich Gesprächsstoff. Der Hauptgrund hierbei ist der, dass viele der gleichen Meinung wie Butragueno sind – außer Erol Bulut.
Weniger Ballbesitz bringt Siege in der Süper Lig
Bei den bisherigen Niederlagen gegen Ittifak Holding Konyaspor (52 Prozent), Besiktas (60 Prozent), Yeni Malatyaspor (65 Prozent) und Gaziantep FK (61 Prozent) hatte der 19-malige Meister stets mehr Ballbesitz. Im Vergleich: Gegen Trabzonspor (49 Prozent) und Denizlispor (44 Prozent) hatten sie hingegen deutlich weniger den Ball. In den weiteren Begegnungen gegen Caykur Rizespor, Karagümrük, Göztepe und Medipol Basaksehir waren es nur zwei bis acht Prozent mehr als die Gegner. Ähnliche Situationen gab es auch bei anderen Süper Lig-Teams.
Gaziantep FK beispielsweise ist in der Ballbesitz-Tabelle des türkischen Fußballoberhauses an letzter Stelle. Jedoch sind sie in der relevanteren Tabelle auf dem vierten Rang. Tabellenführer Besiktas hatte beim 6:0-Kantersieg über Rizespor (41 Prozent) und beim 3:2-Sieg gegen Titelverteidiger Basaksehir (44 Prozent) weniger Ballbesitz. Rekordmeister Galatasaray hingegen hatte bei der überraschenden 3:4-Niederlage bei Konyaspor mehr Ballbesitz (57 Prozent), aber beim 2:0-Sieg über Basaksehir weniger (43 Prozent).
Auch in der Premier League ist Ähnliches zu beobachten
Der Glaube, der von der „Cruyffschen Spielphilosophie“ stammt, dass in jedem Spiel der Schlüssel zum Erfolg nur über den Ballbesitz geht, erlebt in Europa immer mehr einen Abwärtstrend. Johan Cruyff verteidigte seine Spielweise mit den Worten: „Wenn wir den Ball nicht haben, können wir nicht gewinnen. Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner nicht treffen.“ Heutzutage sind die Taktikfüchse des Fußballs nicht mehr ganz so besessen von dieser Idee. Als Manchester City unter der Führung von Pep Guardiola, DER Verfechter der „Cruyffschen Spielphilosophie“, zuletzt gegen den FC Chelsea gewann (3:1), hatten auch sie in der Tat weniger Ballbesitz (46 Prozent). Jose Mourinho ging die Sache mit den Tottenham Hotspur ähnlich an und gewann wiederum gegen „The Citizens“ mit 2:0 (33,6 Prozent). Als Titelverteidiger Liverpool mit Headcoach Jürgen Klopp eine rekordverdächtige 2:7-Niederlage bei Aston Villa verkraften musste, waren sie zu 70 Prozent Herr über den Ball. Demgegenüber hatte man beim 4:3-Heimerfolg gegen Aufsteiger Leeds United im Gegenzug wieder weniger vom Spielgerät (48,8 Prozent).
Ballbesitz entscheidend, aber nicht mehr so ganz
Selbstverständlich ist es nicht unbedeutend den Ball zu besitzen. Es ist immer noch ein wesentlicher Bestandteil des Fußballs. Langfristig gesehen ist es wohl oder übel auch der Schlüssel zum Erfolg. In der Türkei ist Alanyaspor DIE Ballbesitzmannschaft der Süper Lig und auch unter den Top Fünf in der Tabelle vorzufinden. Doch der Trend scheint inzwischen tatsächlich in eine andere Richtung zu gehen. Guardiola erklärt diese Veränderung folgendermaßen: „Wenn man mit dem Ball nichts anfangen kann, was hat es dann für eine Bedeutung den Ball zu besitzen? Wenn der Ballbesitz keinen Funken hervorbringt, dann ist dies zu vergleichen wie ein Leben ohne Leben. Und genau das ist im Grunde gefährlicher.“ Auch sein ärgster Rivale der letzten Jahre, Jürgen Klopp, hatte in seiner ersten Pressekonferenz bei Liverpool seine Meinung dazu geäußert. Der 53-jährige Stuttgarter versuchte zu erklären, dass es viel wichtigere Sachen gibt als eine Ballbesitzmannschaft zu kreieren: „Keiner fängt diese Sache mit Ballbesitz an. Die erste und wichtigste Aufgabe ist es eine stabile Abwehr zu haben.“
Für seinen Job: Bulut ändert seine Taktik
Gerade deshalb nahm Fenerbahce-Coach Erol Bulut beim so wichtigen Basaksehir-Spiel Veränderungen an seiner Taktik vor. Ansonsten hätte er wohl seinen Job verloren. Dies war dem gebürtigen Bad Schwalbacher sicherlich bewusst. Er hatte eine Mannschaft, die zwei Wochen infolge als Verlierer den Platz verließ. Und das, obwohl sein Team mehr Ballbesitz hatte. Wenn die Tabelle etwas anderes sagt, dann ist der Traumfußball in deinem Kopf nicht mehr von Bedeutung. Es kann aber auch manchmal vorkommen, dass man für den Traumfußball erst einmal ein etwas weniger ansehnliches Spiel in Erwägung ziehen muss. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass man jede Woche so spielen muss. Dieser Matchplan hat gewisse Grenzen, an die man sich hält. Er ist dafür gemacht, um positive Ergebnisse zu erzielen. Mach es Spaß? Nein, keineswegs. Aber selbst in den Top-5-Ligen Europas haben einige zwischenzeitliche und noch weiterhin bestehende Tabellenführer diese Spielweise angewandt: Atletico Madrid, AC Mailand (beide weiterhin), Tottenham und Real Sociedad.
Bielsa wohl der letzte Idealist im Fußball
Wenn das Spiel von dir verlangt, dass du pragmatisch und ergebnisorientiert agieren musst, was bleibt einem dann noch übrig? Als Antalyaspor gegen Galatasaray mit einem 4-6-0 auf dem Platz stand, hatte man sie aufs Heftigste kritisiert. Aber es gibt auf dieser Welt genau einen Coach, der nach einer 2:6-Klatsche im nächsten Spiel vier Stürmer ins Rennen schickt und hierbei dem Gegner 14 Torschüsse ermöglicht: Marcelo Bielsa. Es wäre nicht fair von einem anderen Übungsleiter so etwas zu erwarten. Im Fußball ist der Weg des idealen beziehungsweise schönen Spiels nicht kurzfristig umzusetzen. Wahrscheinlich ist Bielsa auch der letzte Idealist im Fußball, der so an seiner Taktik festhält.
Viel wichtiger als Ballbesitz: Ballverlust bzw. Ballgewinn
Es gilt zu wiederholen: Der Ballbesitz ist ein sehr wichtiger Bestandteil im Fußball und langfristig gesehen sollte diese Spielweise das Ziel sein. Jedoch darf man nicht über bestimmte Parameter hinwegsehen, die den Ballbesitz-Fußball prägen. Das Phänomen dieser Spielweise wird von zwei wesentlichen Punkten gestützt, damit am Ende etwas auf die Beine gestellt werden kann: Der Erste ist den Ball zu berühren und der Zweite den Ball weiterhin zu berühren. Wenn man wieder das Spiel zwischen Fenerbahce und Alanyaspor Revue passieren lässt, dann sehen wir, dass die „Kanarienvögel“ sechsmal mehr zu Ballaktionen im Strafraum kamen als Alanyaspor. Auch war die Truppe von Bulut gegenüber der von Alanyaspor-Coach Cagdas Atan zweikampftechnisch überlegen. Trotz weniger Ballbesitz kam es zu viel mehr Balleroberungen. Und genau diese Bälle haben sie geschafft öfter als der Gegner in die Gefahrenzone zu bringen. Des Weiteren haben sie auch mehr Tore als ihr Gegner erzielt. Wie es auch ein englisches Sprichwort bestätigt: „Einfach ist am besten.“
Fazit: Langfristig Ballbesitz – Kurzfristig aber nicht
Fußball ist ein Spiel, das vorsieht, den Ball zu besitzen. Geachtet werden muss aber in welcher Art und Weise dies zustande kommt. Wenn man weniger Ballbesitz hat, aber das runde Leder deutlich weniger als der Gegner verliert, hat man mit weniger Problemen zu kämpfen. Genauso ist es viel wichtiger, im Strafraum des Gegners mit dem Ball zu spielen, anstatt ihn hinten in der eigenen Abwehrreihe hin und her zu schieben.
Führt man sich die Spiele von Alanyaspor vor Augen, dann fällt auf, dass die beste Passverbindung zwischen folgenden Spielern besteht: die beiden Innenverteidiger um Steven Caulker und Georgios Tzavellas. Bei Fenerbahce hingegen hatte Ozan Tufan als zentrale Figur des Spiels die meisten Ballkontakte. Die beste Passverbindung? Mit Rechtsaußen/Außenstürmer Enner Valencia. Langfristig gesehen wird die Spielweise des Ex-Cottbusers Atan viel mehr Spaß machen und positiver in den Augen des Betrachters erscheinen. Aber damit man dies auf langfristiger Basis erreichen kann, sind die Lösungen des Ex-Frankfurter Buluts kurzfristig betrachtet wertvoller.
2 Kommentare
Sehr guter Beitrag.
Leider muss ich eine Sache kritisieren, nämlich, dass in diesem Beitrag nicht einmal Atletico madrid und Diego simeone vorkommt.
Diego simeone ist für mich in dieser Disziplin das paradebeispiel.
Für mich sind Statistiken wertlos, wenn man am Ende des Tages den Platz als Verlierer verlässt. Da kann man noch so viel über Ballbesitz, Schüsse auf das Tor, Flanken oder erfolgreiche Pässe reden wie man möchte.
Ich erinnere mich an die Eboue, Elmander und Co. Zeit, als wir gegen Genclerbirligi auswärts 3-3 gespielt hatten. Gefühlt hatten wir 200 Schüsse auf das gegnerische Tor abgefeuert und auf unser eigenes nur 2 bekommen. Das Ergebnis sieht dann aber anders aus.
Statistiken interessieren mich nicht, das wichtigste ist das Ergebnis. Wenn man mit einem Schuss in 90 Minuten 1-0 gewinnt, redet morgen keiner mehr über diesen Sieg.