Als eine der wenigen Ligen in Europa hat die Süper Lig den Spielbetrieb nicht eingestellt. Die Spieler fühlen sich unwohl und Galatasaray-Trainer Fatih Terim setzt gar zu einer historischen Rede an. Aber die Fußball-Show geht weiter.
Es hatte schon was von einer Dramakomödie. Als Ahmet Agaoglu wortgewandt darüber sinnierte, warum man denn den Ligabetrieb in der Türkei einstellen solle, trug der Präsident des türkischen Tabellenführers Trabzonspor eine Mundschutzmaske. „Wenn wir den Fußball einstellen, werden wir in einem Monat viele Scheidungsfälle im Land haben. Fußball ist etwas, bei dem sich die Leute in der Türkei entladen.“
Dass sich die Lage in der Welt, aber auch in der Türkei durch die Ausbreitung des Coronavirus drastisch entwickelt und jede Maßnahme zur Eindämmung überlebenswichtig sein könnte, war für Agaoglu, dem Mann mit der Maske, auch kein schlüssiges Argument. „Wir waren nie sensibel, wenn es um die Gesundheit der Menschen geht. Warum haben wir jetzt damit angefangen?“
„Ausländische Spieler“ sind beunruhigt
Dazu muss man sagen, dass Agaoglu durchaus ein Mann von Welt ist. Gebildet, breit aufgestellt, mit besten internationalen Kontakten. Dass er dem Thema Coronavirus mit so einer drastischen Ignoranz begegnet, verblüfft. Aber sie ist auch stellvertretend für das Vorgehen der Fußball-Türkei bei der Bekämpfung einer Pandemie, die weltweit für viele Todesfälle sorgt und auch in der Türkei kein Halt macht. Neben Russland ist die Türkei aber die einzige Liga europaweit, die am Wochenende die Spiele nicht absagte. Bis runter zu den Amateuren spielten die Klubs. Immerhin vor verschlossenen Türen.
Der türkische Fußballverband folgte der Anweisung der Regierung, die sämtliche Schulen schloss, aber Sportveranstaltungen bis Ende April für die Öffentlichkeit ausschloss. Mehr Selbstinitiative wollte der Verband nicht übernehmen, obwohl aus der Liga immer wieder Misstöne zu hören waren. Besiktas-Trainer Sergen Yalcin erzählte nach dem 0:0 seiner Mannschaft bei Galatasaray, dass „gerade die ausländischen Spieler“ beunruhigt seien. Er selbst meinte nach dem Spiel, dass man die Sache mit dem Coronavirus „wohl etwas übertreibe“. Und hustete kurz davor den Reporter an.
Galatasaray-Torwart Muslera spricht von „Schande
Bei Besiktas plädierte man von Anfang an auf ein Istanbuler Derby unter verschlossenen Türen, während Galatasaray seit Donnerstag auf eine Ligaunterbrechnung setzt. In der Mannschaft der Gelb-Roten sorgte aber wohl der klubeigene Präsident Mustafa Cengiz für eine Verstimmung, hatte dieser im Vorgeld unbedacht davon gesprochen, dass das ganze Stadion desinfiziert wurde und man ohne Angst kommen könne – auch die Besiktas-Fans.
Galatasarays uruguayischer Torwart Fernando Muslera sprach nach der Nullnummer von einer „Schande“, dass die Spieler gezwungen worden sind, anzutreten. Kein Halten mehr gab es bei seinem Trainer Fatih Terim. Der „Imperator“ setzte zu einer historischen Pressekonferenz an. „Warum ist das Leben meiner Kinder nicht so wichtig?“, fragte Terim im flehenden Ton. Mit „meinen“ Kindern meinte er seine Spieler. Mehr als 850 Leute seien im Stadion gewesen. „Wie soll man hier den empfohlenen Abstand von 1,5 Metern einhalten?“
Kein Wort über die Pandemie
Terim erzählte, dass seine Spieler selbst auf dem desinfizierten Trainingsgelände davon abgesehen hätten, die Umkleidekabine zu betreten und hätten sich in separaten Räumen umgezogen. „Überall werden die Menschen nach Hause geschickt, es werden Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Mit welcher wissenschaftlichen Erkenntnis kann man die Liga weiterspielen lassen?“, fragte Terim.
Der 66 Jahre alte Fußballlehrer wiederholte seine Bitte, den Betrieb sofort einzustellen: „Ihr könnt den Klub zum Meister erklären, den ihr wollt. Wenn wir es verhindern, dass irgendjemand zu Schaden kommt, lasst uns aufhören zu spielen!“
Ob der Verband den Bitten des ehemaligen Nationaltrainers, mit dem man seit geraumer Zeit auf Kriegsfuß ist, bleibt abzuwarten. Am Donnerstag machte Verbandspräsident Nihat Özdemir seine Aufwartung bei Basaksehir, dem einzig übriggebliebenen Europa-Starter der Türkei. Beim 1:0 gegen den FC Kopenhagen im Hinspiel des Europa-League-Achtelfinals war nicht nur das Stadion ausverkauft, sondern auch fast sämtliche Klub-Präsidenten auf Einladung vor Ort. Hinterher feierte man Basaksehir. Kein Wort über die Pandemie.
UEFA könnte Türkei zum Handeln zwingen
„Am Mittwoch spielt man in der Champions League ohne Fans, am Donnerstag ist das Stadion voll, am Freitag sieht es wieder anders aus“, schimpft Terim. Inzwischen zählt die Türkei 18 Corona-Infizierte. Möglich, dass die Dunkelziffer aufgrund mangelnder Kontrollen weit darüber liegt. Während das Land jeden Tag weitere Maßnahmen verabschiedet, wie man sie auch aus Deutschland kennt, macht der Verband nach wie vor keine Anstalten, den Fußball zu stoppen.
Gut möglich, dass sich das nach Dienstag anders darstellen wird, wenn die UEFA, u.a. die EURO 2020 und die europäischen Klub-Wettbewerbe verschiebt und die Türkei, als Mitglied des Rahmenterminkalenders, zum Handeln gezwungen wird. Vielleicht kann dann auch Ahmet Agaoglu seine Mundschutzmaske endlich abnehmen.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf focus.de
Autor: Fatih Demireli