Seit jeher wird der türkische Vereinsfußball von den großen Teams aus Istanbul beherrscht. Egal ob Galatasaray, Fenerbahce, Besiktas oder neuerdings Basaksehir – die Frage des Meisters in der Süper Lig ging in der Vergangenheit zumeist nur über die Klubs der Millionenmetropole. Im bisherigen Saisonverlauf tut sich jedoch ein Verein aus der mit 300.000 Einwohnern deutlich kleineren Stadt Alanya hervor und bietet den gestandenen Vereinen in bester Gallier-Manier die Stirn. Alanyaspor ist nach sieben Spieltagen überraschend Tabellenführer der türkischen Liga.
Der Kader des Vereins von der Mittelmeerküste sieht auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär aus. Wie in so vielen türkischen Klubs besteht er vor allem aus in die Jahre gekommenen Legionären, die zwar mal in den großen europäischen Ligen gespielt, ihren Leistungszenit inzwischen allerdings überschritten haben. Zu nennen wären da unter anderem Georgios Tzavellas (31, ehemals Eintracht Frankfurt), Junior Fernandes (31, Bayer Leverkusen), Juanfran (31, La Coruna) oder Fabrice N’Sakala (29, RSC Anderlecht). Der aktuelle Marktwert des kompletten Kaders beträgt nur rund ein Fünftel des Wertes von Galatasaray.
Dass Alanyaspor, zu deren Kader im Sommer mit Umut Günes (19, VfB Stuttgart II) und Onur Bulut (25, Eintracht Braunschweig) zwei Spieler von deutschen Klubs stießen, dennoch oben mitspielt liegt auch an einem weiteren Legionär, der in Deutschland noch bestens bekannt sein dürfte. Papiss Demba Cissé war von 2010 bis 2012 Leistungsträger beim SC Freiburg und wechselte anschließend für 12 Millionen Euro zu Newcastle in die Premier League – bis heute der drittteuerste Abgang der Breisgauer. Mit sechs Treffern steht der inzwischen 34-jährige Senegalese, der 2018 aus China zu Alanyaspor kam, in der Torschützenliste auf Platz zwei. „Cissé hatte damals wohl keiner der großen türkischen Klubs im Auge“, erklärt Gökhan Yagmur, TM Area Manager für die Türkei. „Aber auch abseits von ihm gab es schon in den vorherigen Jahren mit Efecan Karaca, Emre Akbaba oder Merih Demiral starke Spieler im Team.“
Überraschend kommt die Tabellenführung aber dennoch, blickt man auf die jüngere Vergangenheit des Vereins. Noch vor acht Jahren spielte der Klub in der dritten Liga und stand vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen. Vor der Saison 2011/12 übernahm mit Hasan Cavusoglu allerdings ein neuer Präsident und krempelte den gesamten Verein um.
Er erhöhte die Anzahl der Vorstandsmitglieder von 18 auf 60, sammelte Sponsoren und verkaufte unter anderem den Vereinsnamen an große Unternehmen. Aus Alanyaspor wurde zunächst Albimo Alanyaspor, später Multigroup Alanyaspor und heute Aytemiz Alanyaspor, benannt nach einem großen Tankstellen-Unternehmen. Ein solcher Verkauf des Vereinsnamens ist in der Türkei vor allem bei kleineren Vereinen üblich und in finanzieller Hinsicht keineswegs mit dem deutschen Beispiel RB Leipzig zu vergleichen. Alanyaspors Rekord-Transfer Demiral kostete gerade einmal 3,5 Millionen Euro. Im ligaweiten Vergleich waren schon 129 Neuzugänge teurer.
Um Alanyaspor wirtschaftlich wieder in ruhigere Gewässer zu führen, reichte das von Cavusoglu organisierte Geld aber allemal. Und auch sportlich lief es fortan: 2014 feierte Alanyaspor den Aufstieg in die zweite Liga, 2016 folgte der Gang in die Süper Lig. In der abgelaufenen Saison stand der Verein zwischenzeitlich auf Platz fünf und beendete die Spielzeit auf einem sehr ordentlichen neunten Rang. „Im Sommer kam dann mit Erol Bulut ein neuer Trainer, der einen mehr als positiven Einfluss hat. Taktisch, wie auch im Umgang mit den Spielern, ist er ein Vollprofi“, so Yagmur.
In Alanya herrscht seit der Übernahme von Bulut, der als Spieler unter anderem für Eintracht Frankfurt und TSV 1860 München spielte, und der damit einhergehenden Erfolge eine regelrechte Euphorie, auch Bürgermeister Adem Murat Yücel freut sich über den zunehmenden Bekanntheitsgrad seiner Stadt: „Wir werden Alanyaspor national und international unterstützen“, wird er von der großen Tageszeitung „Hürriyet“ zitiert: „Alanya ist auf dem Weg, eine große Stadt zu werden und das haben wir auch Alanyaspor zu verdanken.“
Europaweite Bekanntheit erlangte Alanyaspor aber bereits bevor das Team am zweiten Spieltag zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte die Tabellenführung übernahm. Im April ging der Name des Klubs durch die internationalen Medien, weil es zu einem der traurigsten Kapitel der Vereinsgeschichte kam. Nach einem Auswärtsspiel im zentraltürkischen Kayseri war ein Minibus des Klubs in einen schweren Unfall verwickelt. Sechs Spieler wurden teilweise schwer verletzt, der Tscheche Josef Sural kam ums Leben.
Das Trikot mit der Nummer 90 wird aus Respekt vor dem 20-fachen Nationalspieler seither nicht mehr vergeben. Inwiefern sich diese Tragödie letztlich auf die jetzige Situation ausgewirkt hat, ist nur schwer zu beurteilen. Area Manager Yagmur meint: „Ich habe nicht das Gefühl, dass das Busunglück etwas mit dem Höhenflug zu tun hat. Für mich sind die Garanten in erster Linie der Trainer und die Offensive.“
Wohin der Weg des kleinen Vereins von der Mittelmeerküste noch führt, bleibt abzuwarten. Die Saison ist noch jung, die Verfolger sitzen Alanyaspor im Nacken und die Chancen auf die erste Meisterschaft einer Mannschaft außerhalb Istanbuls seit Bursaspor 2010 erscheinen weiterhin gering. Selbst mit einer Teilnahme am Europapokal hätte Bulut die Ziele aber schon übertroffen – und der Bürgermeister könnte sich auf Auswärtsfahrten in europäische Metropolen freuen.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf www.transfermarkt.de
Autor: Genser2905