Mesut Özil hat seinen Abschied aus der deutschen Nationalmannschaft verkündet. Er geht nicht so leise, wie man es von ihm gewohnt ist, sondern mit einem lauten Knall. Das wird Folgen haben für den DFB-Boss, für die deutsche Integrationsdebatte und wahrscheinlich sogar für die Zukunft des türkischen Fußballs.
Sozialer Sprengstoff
„Ich bin ein Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ich bin ein Einwanderer, wenn wir verlieren!“ Dieser Satz von Mesut Özil wird hohe Wellen schlagen. Der deutsche Nationalspieler hat am gestrigen Sonntag seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt. Als Hauptgrund nennt der Offensivspieler den Rassismus in Teilen der DFB-Spitze, Teilen der deutscher Medien und der Fans. In drei mit zeitlichem Abstand veröffentlichten Erklärungen äußerte sich Özil zunächst zu seinem Fototermin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, für den er in der deutschen Öffentlichkeit angefeindet wurde. Er habe das aus Respekt gegenüber dem Amt getan: „Für mich ist es nicht wichtig, wer der Präsident ist, sondern dass es der Präsident ist.“
Özil gibt DFB-Boss zum Abschuss frei
Danach ging Özil mit dem DFB hart ins Gericht. Der Verband sei ihm in den Rücken gefallen und habe ihn nicht gegenüber der Kritik aus der Öffentlichkeit geschützt. Teile der deutschen Medien hätten das Foto ohnehin nur benutzt, um ihre eigenen politischen Kampagnen zu fahren. Enttäuscht zeigte er sich zudem von DFB-Sponsor Mercedes-Benz, der ihn aus allen Werbekampagnen nach Veröffentlichung des Fotos strich. Auch hier hätte er sich Loyalität versprochen. Das alles sei aus seiner Sicht aber ein Witz, denn es handelt sich um einen Konzern, dessen Produkte von einem „deutschen Minister für illegal erklärt wurden“, womit der Ex-Nationalspieler auf die Abgasaffäre des Stuttgarter Autobauers hinwies. Während sich der DFB nie dazu geäußert habe, hätte er von Özil eine Erklärung in Sachen Fototermin verlangt.
Die nicht gewünschte Erklärung
Ob man sich in der Frankfurter Zentrale aber solch eine Erklärung gewünscht hat, dürfte fraglich sein. Denn in seinem dritten und letzten Statement gibt Özil DFB-Boss Reinhard Grindel zum Abschuss frei. Dieser hätte schon vor dem Turnier Özils Rausschmiss gefordert, Manager Oliver Bierhoff und Trainer Joachim Löw hätten sich aber für ihn eingesetzt. Özil war vom Verhalten des „eitlen“ Grindel enttäuscht, aber nicht überrascht und zitierte in der Folge frühere ausländerfeindliche und islamkritische Aussagen des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten sowie peinliche Interna rund um das Treffen von Özil und Ilkay Gündoğan mit dem deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier.
Stolz und Vorurteil
Das alles hat uns erst einmal als Fans der Süper Lig und des türkischen Fußballs nicht zu interessieren. Wir sind hier schließlich bei GazeteFutbol! Soll der Mesut doch seinen Weg gehen und seinen Rücktritt erklären. Allerdings muss ich einhaken: Es geht uns doch an, denn auch wir leben in Deutschland und fast alle meine türkischen Freunde und auch ich haben nicht nur zwei Lieblingsvereine – einen in der Bundesliga und einen in der Süper Lig – sondern viele drücken dem deutschen Team die Daumen. Manche machen das, weil die Türkei sich nur selten qualifiziert. Der überwiegende Teil aber auch deshalb, weil Spieler wie Mesut Özil, Ilkay Gündoğan oder Emre Can sie stolz machen. Die Kinder aus der dritten Einwanderergeneration haben es bis in die Lieblingsmannschaft der „Almans“ geschafft. Und das ist in diesem Zusammenhang keineswegs böse gemeint. Das Özil, als weltweit gesehen größter DFB-Star dieser Weltmeister-Generation neben Bastian Schweinsteiger, eigentlich immer unterschwellig rassistisch kritisiert wurde, dürfte spätestens nach dem WM-Titel 2014 und im Zuge der Flüchtlingsdiskussion vielen „Deutsch-Türken“ aufgegangen sein. Er stand immer im Mittelpunkt, man erwartete diese Zuckerpässe, die ihn berühmt machten und die ihm dieses Magische verliehen, dass kaum ein Spieler im internationalen Fußball mitbringt. Aber wehe, wenn Özil ein schwaches Match ablieferte. Dann wurde er meist heftiger kritisiert als seine Mitspieler ohne Migrationshintergrund oder auch seine Freunde Miroslav Klose und Lukas Podolski, wie Özil unterstrich. Deren polnische Vorfahren waren nie ein Thema. Özil stellte die Frage in den Raum, ob es daran liege, dass er ein Türke sei oder ein Moslem.
Das missverstandene Genie wird zum „Sündenbock“
Bis zum Turnier in Russland sahen viele Özil als missverstandenes Fußballgenie. Danach wurde er, wie er selbst schrieb, zum „Sündenbock“. Nicht nur die rechte und rechtskonservative Presse und entsprechende Politiker, sondern auch viele „normale“ Medien und Politiker aus der Mitte der Gesellschaft machten ihn und das berühmte Foto zum Hauptschuldigen des WM-Aus. Zumindest beschränkte sich die Diskussion im Wesentlichen darauf. Das waren dieselben Leute, die wie selbstverständlich einem Vladimir Putin oder dem kriegslüsternen US-Präsidenten die Hand geben und sogar an die Radikalen in Saudi-Arabien Waffen verkaufen; an Erdoğans Türkei übrigens auch. Das ausländische Experten eher taktische Schwächen des DFB-Teams sahen und andere Spieler wie den quasi unsichtbaren Thomas Müller, den kampf- und laufschwachen Sami Khedira, den nach einer langen Saison völlig überspielten Toni Kroos oder auch die fatale Abschlussschwäche aller Stürmer als wichtige Gründe sahen, interessierte hier nur die wenigsten Fans und „Experten“. Und das war nicht nur in den ohnehin emotionalen Foren im Web der Fall. Sie und große Teile der Mainstream-Medien wollten Mesut Özil zur Schlachtbank führen.
Das Idol der jungen Fußballer geht
Nun haben sie ihr Opfer, aber nicht in der gewünschten Form. Mesut Özil hat es meiner Meinung nach mit diesem Statement seinen Kritikern gezeigt. Er hat DFB-Boss Grindel als eitlen Gockel vorgeführt, dem eigentlich nur noch der Rücktritt bleibt. Er hat aber auch der deutschen Gesellschaft den Spiegel vorgehalten. Deutschland hat vielleicht nicht nur ein Integrationsproblem, sondern auch ein Rassismusproblem. Über die Ursachen dürfen nun die „Deutschen“ selbst streiten und diskutieren, denn Mesut Özil hat nur den Diskussionsrahmen gesetzt. Er selbst hat sich mit diesem Statement nicht nur aus dem deutschen Fußball verabschiedet, sondern auch aus Deutschland. Für den Fußball-Nachwuchs dürfte das Folgen haben: Mesut ist das Idol einer ganzen Generation von jungen, türkischstämmigen Fußballspielern in Deutschland. Quasi jeder Profi-Klub hat mehrere „Deutsch-Türken“ in seinen Jugendmannschaften. Können die sich noch ohne Bauchschmerzen für den DFB entscheiden oder werden sie befürchten, von der Öffentlichkeit selbst als Spieler zweiter Klasse behandelt zu werden? Dem türkischen Verband spielt das beim Kampf um die „multinationalen Talente“ in die Karten, denn die Ausbildung beim Ex-Weltmeister ist immer noch Weltklasse.
Rache wird sonntags kalt und auf Englisch serviert
Und Mesut wird wahrscheinlich auch nie wieder ein Interview auf Deutsch geben. Sein Statement gab es auf Englisch, in kleinen Buchstaben als Bilddatei, um sie nicht herauskopieren zu können; an einem Sonntag mit der wichtigsten Erklärung nach Redaktionsschluss der meisten Medien, die derzeit ohnehin wegen der Urlaubszeit unterbesetzt sind. Seine Rache an den deutschen Gazetten hat er kalt serviert. Damit fällt aber auch ganz nebenbei ein großer Schatten auf das internationale Renomee Deutschlands. Jeder Fußballfan auf dieser Welt und die mehr als 73 Millionen Özil-Follower auf diversen Social Media-Kanälen können nun selbst nachlesen, dass ein deutscher Weltklassefußballer aufgrund von Rassismus im größten Fußballverband der Welt zurückgetreten ist. Die ersten internationalen Reaktionen fallen für den DFB (und Deutschland) vernichtend aus. Ein Opfer ist Mesut Özil dennoch, denn er selbst scheint als Deutscher gestorben zu sein. Eines der zwei Herzen in seiner Brust ist schon vor Jahren erkrankt und hat irgendwann in den vergangenen Wochen aufgehört zu schlagen. Nun hat er sein deutsches Herz mit einem lauten Knall zu Grabe getragen. Er verabschiedet sich aber noch mit einer Pointe, denn das Ironische an diesem denkwürdigen Sonntag ist: Mesut Özil, der oft für seine hängende Körperhaltung auf dem Platz kritisiert wurde, geht erhobenen Hauptes vom Feld.