Nach über vier Jahren beziehungsweise 101 Partien an der Seite von Sergen Yalcin und Murat Sahin fühlte sich Cagdas Atan im vergangenen Sommer bereit alleine das Zepter bei einem Klub zu übernehmen. Das Angebot von Aytemiz Alanyaspor, wo er zwischen November 2018 und Mai 2019 bereits mit seinen Ex-Spielerkollegen um Yalcin und Sahin die taktischen Geschicke des Klubs leitete, kam gerade richtig. „Nachdem unsere Arbeit bei Alanyaspor beendet war, haben Klubpräsident Hasan Cavusoglu und seine Vorstandsmitglieder den Kontakt zu mir aufrechterhalten. Sie teilten mir mit, dass sie an Plänen für eine gemeinsame Zukunft arbeiten würden. Und ich fühlte mich so langsam aber sicher bereit. Natürlich gab es einige Fragezeichen, da wir mit einer neuen Spielergruppe in die neue Saison starteten. Schließlich lag der Anfang mit sieben Siegen und zwei Remis weit über unseren Erwartungen“, so Atan zu Anfang seines Interviews mit dem türkischen Sportblatt „Fanatik“.
Nonplusultra: Ballbesitzfußball und Spieleröffnung von hinten
Seine Spielweise, für die er seitens der Kritiker gelobt wird, kommentierte der Alanyaspor-Coach folgendermaßen: „Ich hatte bereits vor Saisonstart gesagt, dass wir die spielbestimmende Mannschaft sein möchten und auch versuchen werden, die Balleroberungszeit soweit möglich zu reduzieren. Wir sind in der Süper Lig z.B. die beste Mannschaft, wenn es darum geht, in der Angriffszone die Bälle zu erobern. Auch den Spielern gefiel die Art und Weise wie wir spielten. Wir versuchen das umzusetzen, indem wir in jeder Zone des Feldes ein oder zwei Mann mehr als der Gegner sind. Der Spielaufbau aus der eigenen Abwehrreihe heraus ist für mich zudem unentbehrlich. Als ich zum Entschluss kam Trainer zu werden, hatte ich das als Zentrum meines Spiels bestimmt. Ich habe sehr viele Spiele bezüglich dem Ballbesitz angesehen und analysiert. Deshalb wusste ich, dass wir es schaffen können. Den Ball dem Gegner überlassen ist für mich so etwas wie eine Respektlosigkeit gegenüber der Arbeit, die wir verrichten. Aus so viel Arbeit, Fußball und Variationsmöglichkeiten sollte am Ende nicht das als Endergebnis stehen.“
Ansehnliche Spielweise entpuppt sich als Problem
Im weiteren Verlauf erklärte der frühere Cottbusser, wie sein ansehnliches und erfolgversprechendes Spielsystem zu Beginn der Saison später zum Problem wurde: „Wir wussten zu Saisonbeginn, dass wir das Spiel bestimmen können. Dies gelang uns auch von Woche zu Woche noch besser. Der Ballbesitz und das hohe Pressing ließen unseren Gegnern fast keine andere Wahl. Wir hätten zu dem Zeitpunkt aber nie ahnen können, dass sich das eines Tages zu einem Problem entwickeln könnte. Als die gegnerischen Teams uns im Zentrum mit mehr Spielern störten, haben wir angefangen Schwierigkeiten zu bekommen. Ich als Trainer stand nun in der Pflicht eine Lösung auf die Reaktion der Gegner zu finden. Wir haben danach unsere Offensivaktionen zu vervielfältigen versucht. Auch haben die Bezeichnungen „Half Space“ [zu Deutsch: Halbräume] und „Assist Zone“ [zu Deutsch: Assistzone] für uns an Bedeutung gewonnen. Ich bin der Meinung, dass wir einen Großteil der Probleme so aus der Welt schaffen konnten.“
„In der Türkei wird die Spielweise vom Ergebnis abgelesen“
In der Vergangenheit schon hatte Atan die Denkweise im türkischen Fußball kritisiert. Auch im Gespräch mit „Fanatik“ ging Atan auf diese Kritik ein: „Obwohl wir mit vielen Punktverlusten zu kämpfen hatten, haben wir gesehen wie sehr unsere Spieler an dieses System glauben. Wir haben ganz klar formuliert, dass wir weiterhin an diesem Spiel festhalten, den Spaß daran nicht verlieren und schließlich unseren Plan so fehlerlos wie möglich ausbauen werden. Auch bei Niederlagen haben wir um ehrlich zu sein sehr gut gespielt. Da in der Türkei die Spielweise vom Ergebnis abgelesen wird, wurde es etwas falsch übermittelt. Wir haben nie daran gedacht unser System aufzugeben, sondern immer versucht es zu optimieren. Ich habe dem Transfer von Anastasios Bakasetas zugestimmt, weil der Klub große Summen verdienen würde und ich meinem Spieler seinen Wunsch ermöglichen wollte. Mit seinem Abgang haben wir einen wichtigen Spieler verloren, der bei uns für viele Tore und Assists stand. Aber wir konnten nach ihm unsere Spieldynamik verbessern und unser Passrhythmus beschleunigen. Ich wollte mich um ehrlich zu sein auch ohne ihn mal probieren, zu was ich in der Lage bin.“
Atan legt den Finger in die Wunde: „Konter statt Umschaltspiel“ und „Fehlende Angriffsvariationen“
Den Unterschied zwischen der Süper Lig und den anderen europäischen Ligen erläuterte der Ex-Basel-Spieler im Zusammenhang mit der Denkweise des türkischen Fußballs folgendermaßen: „Die Premier League und die Serie A verfolge ich intensiv. Insbesondere in Italien erledigen die Trainer ihre Hausaufgaben in lobenswerter Weise. Dort ist eine sehr große Veränderung und Entwicklung zu sehen. Die Spiele haben sich zu einem Mathematik-Krieg entwickelt. Sie benutzen das ganze Spielfeld. Im Vergleich mit diesen Ligen geht es bei uns auf dem Platz einfach viel zu langsam zu. Die Teams verfügen über viel zu wenige verschiedene Angriffsvariationen. Keiner fühlt sich angesprochen oder geht das Risiko ein aus dem eigenen Abwehrverbund heraus das Spiel zu eröffnen. Bei jedem noch so kleinsten Gegenpressing schlagen sie den Ball einfach weit nach vorne. Anstatt einem Umschaltspiel versuchen sie eher zu kontern. Sie verstecken sich in ihrer eigenen Hälfte und ich denke, dass genau deswegen die Spielqualität sinkt. Natürlich hängt vieles auch in Verbindung mit der Kaderqualität und den Umständen zusammen, das muss ich zugeben.“
„Erster türkischer Trainer in Europa nach Fatih Terim“
Der 40-jährige Übungsleiter verriet des Weiteren seine Ziele in Alanya und träumt auch schon von einem Trainerjob in Europa: „Mir gefällt es in Alanya wirklich sehr. Wie sollte es auch anders sein. Eine wunderschöne Region mit noch besseren Klimaverhältnissen. Zudem ist die Zuneigung der Einheimischen sehr wichtig und aufmunternd. So weit es die Pandemie zulässt, versuche ich das Gespräch mit ihnen zu suchen. Sie sind glücklich über unsere Spielweise und unsere Arbeit. Egal ob es dieses Jahr wird oder erst nächstes Jahr – ich möchte Alanya einen Titel schenken. Ich habe hier einen Dreijahresvertrag. Mein Ziel ist diesen Vertrag zu erfüllen und wertvolle Erfahrungen zu sammeln. In den letzten Jahren spielen immer mehr türkische Spieler in Europa. Leider können wir noch keine Trainer sehen, die dort arbeiten. Fatih Terim ist der letzte türkische Trainer, der dort gearbeitet hat. Ich möchte der erste türkische Trainer werden, der nach einer langen Zeit wieder in Europa arbeitet.“
Trainerlegende del Bosque und Fink als Vorbilder
Zu guter Letzt erzählte Atan auch, dass er sich von seinen Ex-Trainern um Weltmeister-Macher Vicente del Bosque (Besiktas 2004) und Thorsten Fink (FC Basel 2009-2011) hat inspirieren lassen: „Ich habe es schon immer gesagt und möchte auch von hier noch einmal meinen Dank an Sergen Yalcin aussprechen. Er hat mir und Murat Sahin unbegrenzten Freiraum gegeben. Als ich bei Besiktas spielte, habe ich mich sehr von del Bosque beeinflussen lassen. Unter ihm war das Spiel etwas ganz anderes. Nach meinem Wechsel zum FC Basel hat mich mein dortiger Trainer Thorsten Fink auch sehr beeinflusst. Unter ihm spielten wir den „totalen Fußball“, welches auch der FC Barcelona spielt. Dort hatte ich zum ersten Mal gesehen, dass die Außenverteidiger ins Zentrum gehen. Deswegen kann ich diese beiden Namen mit Gewissheit nennen.“
Ein Kommentar
Alanya spielt attraktiven und intelligenten Fußball – und das nicht seid gestern. Da auch Abgänge von Leistungsträgern kompensiert werden können, scheint das System sich auch mehr und mehr zu etablieren. Leider sind die nicht sonderlich konstant über die Laufzeit. Am Anfang (auch letzte Saison) erst volle Pulle nur um anschließend abzusacken. Letzte Saison Pokal Finale, dieses Jahr möglicherweise auch oder sogar mehr. Leider patzen die Herren immer, wenn es um was geht (die Europa League Qualifikation gegen Rosenborg oder das Pokalfinale gegen Trabzon). Ich glaube Atan hat so seine Visionen, der wird seinen Weg schon machen.