Wieder steht ein großes Fußball-Turnier bevor, erneut setzt die türkische Bevölkerung große Hoffnungen in die auf dem Papier „äußerst talentierte Mannschaft“. Natürlich plant man sich nach guten Vorstellungen optimal vorzubereiten und sinnvoll zu testen, doch am Ende dieser „Testphase“ schlägt die Stimmung im Team und im Land um 180 Grad um. Ein altbekanntes Bild der türkischen Nationalmannschaft. Die Vorstellungen einer erfolgreichen Europameisterschaft sind binnen weniger Tage der Furcht von einer erneuten EM-Schmach wie 2021 gewichen. Einzelkritiken zum gestrigen Auftritt erübrigen sich.
Die Kilicsoy-Kaplan-Krise
Die Vorzeichen begannen sich mit der Krise um Semih Kilicsoy und Ahmetcan Kaplan zu verdunkeln. Alle waren anfangs mit der mutigen Wahl und der Nominierung dieser beiden extrem stark aufspielenden Top-Talente zufrieden, zumal auch Bedarf nach genau diesen Spielertypen im Team herrschte. Bis zu diesem Punkt herrschte noch Euphorie in der Türkei. Doch die Art und Weise, wie diese beiden Hoffnungsträger behandelt und dann überraschend zur U21 geschickt wurden, wo beide übrigens abermals stark aufspielten, hinterließ einen faden Beigeschmack, der sich über die gesamte Länderspielphase hinweg zog.
Ergebnisse demoralisieren eine ganze Fußball-Nation
Die mehr als ernüchternden und enttäuschenden Testspielniederlagen taten ihr übrigens, um eine ganze Nation wenige Monate vor dem Beginn der EURO 2024 zu demoralisieren. Im Juni finden noch zwei weitere Testspiele unmittelbar vor dem Start der EM gegen Titelverteidiger Italien und Polen statt. Sollte man hier auf dieselbe Weise vorgeführt werden, wird es ganz schwer diese Motivation und womöglich „Versagensangst“ aus den Köpfen der Spieler und Fans zu bekommen. Dies wäre das schlechteste Omen, dass man sich wünschen könnte.
Jede Niederlage leitet einen schleichenden Prozess des dauerhaften Misserfolgs ein
Der größte Fehler, die scheinbar einfach jeder türkische Trainer ohne Ausnahme macht, ist es Testspiele einfach herunterzuspielen und offenkundig nicht ernstzunehmen. Wenn man gewinnt, baut dies Selbstvertrauen auf. Und zu Siegen muss zur Gewohnheit werden, sonst werden Niederlagen zur Gewohnheit, egal ob Test oder Pflichtspiel. Dieser psychologische Faktor unterscheidet die Champions von den Nicht-Champions. Es wird jedes Mal wieder verdrängt oder schlicht außer Acht gelassen, dass solche Niederlage größere Folgen haben und weit mehr Spuren hinterlassen, als die Beteiligten offenbar begreifen. Wahllos in der Startelf Spieler rotieren zu lassen, um mal zu sehen, was diese leisten können, ist der völlig falsche Ansatz.
„Gerüst muss immer stehen“
Professionell agierende Nationalteams, die Ansprüche auf Erfolg stellen, haben in ihrer Startaufstellung ein Grundgerüst und bemühen sich darum, so oft es geht, mit ihrer „Top-Elf“ zu starten, damit sich diese immer besser einspielt, Abläufe automatisiert werden und eine fest taktische Spielphilosophie entsteht. Getestet wird hier, indem die Spieler, die der Trainer sehen möchte, Stück für Stück eingeführt werden. Dies geschieht entweder durch wenige Wechsel in der Startelf oder erst im Spielverlauf, wenn Einwechslungen vorgenommen werden, damit das Gerüst stets in Takt ist und man nicht wie die Türkei gestern plötzlich völlig überrumpelt wird und Chaos auf dem Spielfeld herrscht. Wenn man nämlich einmal die Spieldisziplin verliert, kommt es am Ende zu solch desolaten Leistungen und einem sportlichen Desaster.
Kerngruppe unantastbar
Natürlich gibt es im modernen Fußball nicht die „eine Startelf“ und man muss sich taktisch auf den Gegner einstellen, das bedeutet aber nicht einfach mal neun von elf Spielern auszutauschen. Dies betrifft nur einzelne Positionen. Es gibt nämlich immer einige Spieler, die „unersetzbar“ für das eigene Spiel sind. Nehmen wir Ismail Yüksek. Offenkundig ist der 25-Jährige derzeit aufgrund seiner bissigen Spielweise, Laufbereitschaft und Energie unverzichtbar für das türkische Mittelfeld. Es ist sicherlich auch unbestritten, dass der zurzeit verletzte Ferdi Kadioglu auf der linken Abwehrseite gesetzt sein muss.
Zu viel Veränderung sorgt für Verunsicherung
Zudem zeichnet sich ab, dass Akteure wie Baris Alper Yilmaz und Kenan Yildiz auf ihren Stammpositionen am effektivsten sind und man sie weder dauerhaft auf der Bank sitzen lassen sollte, um sie für ein paar Minuten einzuwechseln, noch ihre Position zu stark verändern sollte, was das Spiel negativ beeinflusst. Das viele Rotieren in der Abwehr ist ebenfalls ein extrem großes Problem, das grundsätzlich massive Schwierigkeiten nach sich zieht. Auch hier sollte es nach einem Plan A im Notfall einen eingespielten Plan B geben und es sollte kein Plan X, Y, Z zusammenwürfelt werden. Klar ist auch, dass Ugurcan Cakir in dieser Verfassung nicht im Tor stehen darf. Auch hier wäre Kontinuität mit Mert Günok in den letzten Testspielen vor der EM wünschenswert und wichtig.
Testen um ohne sinnvolles Ergebnis gestestet zu haben
Was ebenfalls zu denken gibt, ist der Umstand, dass Nationalcoach Vincenzo Montella offenbar keine Startelf nutzen wollte, damit diese sich vor der EM einspielt, sondern munter „durchtesten wollte“. Wären dann hier nicht Kilicsoy und Kaplan nicht die geeigneten Kandidaten gewesen, um etwas Spielzeit zu erhalten? Die Kritik wäre sicherlich deutlich verhaltener ausgefallen und man hätte Spielertypen, die man benötigt, aus die Mannschaft herangeführt.
Selbstsabotage-Spitzenreiter
Als Fazit kristallisiert sich Folgendes sehr zum Leidwesen der türkischen Fußball-Fans eindeutig wieder heraus. Die Türkei sabotiert sich einmal mehr selbst. Trotz eines großartigen Potenzials schadet man sich mit den Entscheidungen auf und neben dem Platz selbst und unterschätzt, welch mentale Wirkung solche Niederlagen auf die Spieler und Fans haben. Wie dies eine negative Kettenreaktion in Bewegung setzt, die dann nur noch schwer zu stoppen ist. Was der Türkei in den meisten Fällen auch nicht gelingt.
Man hätte die Testspiele nutzen müssen, um die „stärkste Elf“ aufzubieten und während der Spiele einzelne Änderungen vorzunehmen, um die Alternativspieler in die Kernmannschaft zu integrieren, um ein Maximum an Eingespieltheit vor der EURO 2024 zu erreichen. Wenn man sich Team wie Frankreich, Deutschland, England, Argentinien, Spanien etc. ansieht, wird jeder immer eine Spielergruppe nennen können, die in der Startelf steht und um die herum „gebaut“ wird, um solch kopflose Auftritte wie der Türkei gegen Österreich zu vermeiden.
9 Kommentare
Unser Team hat selten so viele talentierte Spieler, wenn wir es mit dieser Generation verkacken, dann kann man den Laden direkt schließen.
Ich weiß nicht, was das Ziel von Montella war in diesen 4 Testspielen. Er hat so viel getestet als gebe es kein Morgen. In 3 EM quali Spielen hat er immer gleich angefangen. Woher und vorallem warum, aufeinmal dieser Wandel.
Er lässt Ridvan, Yusuf Sari, Yazici, Eren Elmali, Abdülkadir Ömür, Samet Akaydin??, Enes Ünal, Cenk Özkacar etc spielen, von einigen dieser Spieler hatte ich noch nie von gehört. Falls er Spieler testet, warum nicht Uzun oder Semih unsere größten Talente, die sowieso Einsatzzeit benötigen. Alles bisschen Sinnfrei.
Bardakci hat immer Stamm gespielt, sowie Ferdi. In den Testspielen dann garnicht mehr. Mit den Beiden wurden gute Ergebnisse erzielt, ohne die nicht mehr.
Sollte Montella die nächsten zwei Testspiele auch so wild durch-rotieren seh ich schwarz für die EM und auch für Montella.
Ferdi und Apo sind verletzt soviel ich weiß (Ferdi wurde von den Trabzon Fans verletzt das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen)
Mit Ferdi , Apo und einem richtigen Tormann im Tor hätten wir definitiv keine 6 Dinger kassiert
Congrats 👏
Definitiv ein Beitrag den ich gesucht habe, danke dafür. Dem kann ich nicht viel hinzufügen. Ich möchte jedoch erwähnen das es aus Fan Seite schwierig sein wird, die Struktur des bösen Lobbyisten in den Fussball Reihen des türkischen Fußballs zu zerbrechen, wenn es so eine in der Art und Weise wie es in vielen Köpfen gibt überhaupt so existiert. Ich bezweifle nicht das der Fußball im Management ein Geldspiel geworden ist, dies ist international leider beim Profisport maßgeblich. Zuletzt leider die Spielentscheidungen in der türkischen Liga und einigen unschönen Auseinandersetzungen. Man merkt jedoch, dass sich aber auch hier wieder zu viele einmischen und jeder jeden positioniert, dass ist fatal. Das es im türkischen Fussball nicht rund läuft ist klar, aber türkische Fans müssen aufpassen und sich auch definitiv Zusammenreißen reifer und ruhiger zu werden. Denn es geht dann allmählich vom Fußball bis in die Politik und das ist nicht korrekt. Man muss um den Fussball entstehen zu lassen auch nicht überall einen Sündenbock suchen, ob ein Verband gewillt war oder bestimmte Ereignisse oder Pläne ausgeschmückt hat ist erstmal überhaupt nicht nachvollziehbar, es werden schon derart pseudo Verschwörungstheorien aufgestellt,weil man es damit nur erklären kann. Meiner Meinung liegt das Problem einfach darin das Leute vllt einfach keine Ahnung vom Fußball haben und jeder mit der Suppe kochen will, aber es nur einen Koch gibt. Die Unsicherheit hat sich hier bis zum Trainerposten anscheinend breit gemacht, dass sogar ein Trainer keine andere Möglichkeit gesehen hat,als jeden und alle spielen zu lassen. Definitiv keine gute Lösung, aber auch hier wieder, zu viele Einmischer. Eine klare Linie verfolgen, eine gestandene Startelf mit paar Rotationen und auswechselbaren Playern. Ich wünsche wir fassen uns am Riemen und fangen so schnell wie möglich an, an uns zu arbeiten und die Fehler nicht bei allem anderen zu suchen. Eines der größten Probleme der türkischen Fussballer ist die Mentale Fähigkeit. Man muss psychologische Übungen machen, denn mental und psychisch ist die türkische Mannschaft oder generell die meisten türkischen Fußballspieler nicht auf der Länge eines europäischen Fußballspielers. Das wird total unterschätzt im Spiel. Türkische Fußballer sind so anfällig für Fouls, Rangeleien und anderen verhalten. Auch hier die Gunst des Schiedsrichters gewinnen, korrekte Spielweise und Fokus aufs Powerplay. Muss trainiert werden.
Toller Artikel der die derzeitigen Defizite schön aufzeigt.
Aber ehrlich gesagt ist mir die Analyse weiterhin zu oberflächlich, da sie nicht auf den Grund der Misere des türkischen Fussballs geht. M.E. brauchen wir hier nicht über einzelne Spieler, Trainer etc. uns Gedanken machen, solange die strukturellen Probleme des türkischen Fussballs nicht angegangen werden.
Ehrlich gesagt sind wir doch gesegnet mit tollen, individuellen Spielerpersönlichkeiten, nicht nur derzeit auch früher schon, das war nie das Problem. Das Problem ist, dass Fussball ein Teamsport ist und eine einfache Aneinanderreihung von 11 Feldspielern in der Regel nicht klappt. Das gestrige Spiel gegen Österreich hat gezeigt, dass ein funktionierendes Team „ohne Stars“ zu jeder Zeit ein hochbegabtes „Team“ einzelner Individuen schlagen kann. Wir freuen uns ekstasisch dass wir Arda sehen wie er Fallrückzieher macht, wie Ferdi nach der Reihe auf der Aussenlinie seine Gegenspieler vernascht aber vernachlässigen den Teamgedanken, die harten Arbeiter die die Grundlage des Erfolgs sind.
Zu den politischen Verstrickungen des türkischen Fussballsumpfs möchte ich hier nicht weiter eingehen, der unbedingt davor zu lösen ist, ansonsten wird dies immer so weiter gehen mit vielen Auf und Abs aber keinem richtigen Fortschritt. Ihr glaubt ja selber nicht dass Montella eigenständig Spieler einberufen bzw. das Team aufstellen darf. Die grauen Eminenzen im Hintergrund steuern die Themen nach belieben und müssen bei Misserfolg nicht gehen – das gleiche war schon bei Teamchef Kuntz und auch bei früheren. Montella ist nur eine Marionette und wird fallengelassen, sobald es opportun erscheint bzw. die Masse sich zu sehr aufregt.
Ich schreibe schon wieder mal zu viel, hier noch ein kleiner Denkansatz von Mahfi Egilmez, den ich persönlich sehr schätze und zu 100% überzeugt bin dass er Recht hat:
Siyasetin karistigi her teknik konu bir faciaya donusuyor. Faize karisti enflasyon uctu, istatistiklere karisti gerceklerden koptuk, futbola karisti dunku manzara ortada. Buna karsilik siyasetin karismadigi teknik konularda mesela voleybolda dünya çapinda basarilar geliyor.
https://twitter.com/mahfiegilmez/status/1769605719714574618
Wirklich gut geschrieben, hier hoffe ich echt, dass man bis zu den nächsten Testspielen diese Niederlagen aus dem Kopf bekommt und endlich das oben beschrieben Grundgerüst mal anfängt aufzubauen.
Wie kann das bei uns aussehen? Hier habe ich wenige Namen im Kopf die bei uns immer und zu jeder Zeit in der Aufstellung stehen müssen. Das wären Namen wie Ferdi Kadioglu, Hakan Calhanoglu, Orkun Kökcü und Ismail Yüksek.
Die restlichen 7 Positionen sind in meinen Augen unbesetzt, wir haben leider auf gewissen Positionen keine qualitativ gute Breite.
Im Tor haben wir Mert der immer von der Tagesform abhängig ist, der Ersatz um Ugurcan ist zu wackelig, Okan Kocuk und Muhammed Sengezer in solchen Begegnungen zu unerfahren.
Auf den Flügeln herrscht sehr viel Potential, hier hat Montella die Qual der Wahl, genauso wie bei den Innenverteidigern.
Ich wünsche mir seit Jahren eine Nationalmannschaft bzw. eine Nominierung von Spielern, die es auch tatsächlich verdient haben dabei zu sein. Wenn man knallhart ist, dann würde man Yusuf Yazici, Enes Ünal, Abdülkadir Ömür und Cenk Özkacar nicht nominieren. Und genau das fordere ich auch von einem Montella.
Ich würde jetzt nicht in Panik verfallen wegen den zwei Testspielniederlagen, eher wenn wir das gleiche auch in 2 Monaten abziehen gegen Polen und Italien so kurz vor der EM. Denn dann hat Montella seine Hausaufgaben nicht gemacht und dann gibt es auch einen Grund zur Panik.
Sehr mutiger Artikel und Kommentar. Ich hoffe, dass mehr solcher Artikel in Zukunft rauskommen. Ich kann mich daran erinnern, dass man früher häufiger solche Meinungen auf Gazetefutbol lesen konnte. Das hat mir in den letzten Jahren etwas gefehlt.
Ich stimme Herrn Polat da inhaltlich natürlich komplett zu. Mehr muss man dazu an dieser Stelle auch nicht sagen.
Das habe ich auch bereits geschrieben, warum wird kurz vor dem Turnier so wild rotiert? Wir haben keine eingespielte Stammelf und da reichen 2 Spiele nicht um das zu beheben. Ich kann’s nur noch mal wiederholen ich hoffe das Montella in den Spielen gegen Italien und Polen seine beste elf auf den Platz schickt und man dann auch gute Ergebnisse holt um Selbstvertrauen zu tanken für die EM. Für das Turnier bleibt dann nur zu hoffen das man die Gruppenphase übersteht und es kein Desaster wird
Super Artikel, kann mich nur anschließen.