404. Duell – eine 116 Jahre alte Rivalität, die den türkischen Sport geprägt hat
Wenn Fenerbahce und Galatasaray im Derby der Trendyol Süper Lig aufeinandertreffen, geht ein Klassiker in seine nächste Runde (zur Vorschau). Mit der aktuellen Partie stehen sich beide Klubs zum 404. Mal gegenüber, in der Liga ist es das 137. Duell. Der Wettbewerb, der einst den Beinamen „Gegensätzliche Geschwister“ (türk.: „Zit kardesler“) erhielt, begleitet den türkischen Sport seit 116 Jahren und hat in dieser Zeit unzählige Geschichten, Rekorde und emotionale Momente hervorgebracht. Das Duell der Gelb-Marineblauen und Gelb-Roten gilt längst als kulturelles Ereignis, das weit über das Spielfeld hinausreicht.
Das kommende Derby findet im Chobani-Stadion statt und ist zugleich der Höhepunkt der 14. Spielwoche in der Süper Lig. Wieder einmal treffen zwei Mannschaften aufeinander, deren Rivalität tief in der Geschichte verankert ist und von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Vom ersten Aufeinandertreffen über legendäre Pokalduelle bis hin zu modernen Spitzenspielen: Der Name Fenerbahce-Galatasaray steht für eine der intensivsten Klubrivalitäten Europas.
Schon die Anfänge des Duells zeigen, wie weit dieser Wettbewerb zurückreicht. Das erste Tor in diesem über hundert Jahre alten Vergleich erzielte der Galatasaray-Fußballer Emin Bulent Serdaroglu. Am 17. Januar 1909 gewann Galatasaray das erste Spiel an einem Ort, der als „Papazın Cayiri“ bekannt war, mit 2:0. In den ersten sieben Partien gelang es Fenerbahce nicht, auch nur einen Treffer gegen den Erzrivalen zu erzielen – ein Start, der die Rollenverteilung zu Beginn der Rivalität prägte.
Von 14 Zuschauern bis zum Olympiastadion – die Extreme der Derby-Kulisse
Auch bei den Zuschauerzahlen hat das Fenerbahce-Galatasaray-Derby extreme Gegensätze erlebt. Das wohl am schwächsten besuchte Spiel fand am 17. November 1922 statt. Bei strömendem Regen im „Field of Union“ (türk.: „Ittihat Sahası“) verfolgten lediglich 14 Zuschauer – dazu ohne Eintrittskarten – die Partie. Schiedsrichter Fethi Tahsin Basharan leitete das Spiel sinnbildlich unter einem Regenschirm und wurde so Teil einer der kuriosesten Derby-Episoden der Geschichte.
Ganz anders sah es am 21. September 2003 aus. Im Ligaspiel im Atatürk-Olympiastadion waren sagenhafte 70.125 Zuschauer im Stadion. Diese Zahl markiert einen Rekordwert und steht stellvertretend für die Dimension, in die sich das Derby im modernen Fußball entwickelt hat. Zwischen diesen beiden Extremen – dem Spiel vor 14 Zuschauern im Regen und der Massenkulisse im Olympiastadion – spiegelt sich die Entwicklung des türkischen Vereinsfußballs.
Die Faszination für das Derby hängt nicht nur mit Tabellenständen oder Meisterschaftsrennen zusammen, sondern auch mit dieser besonderen Atmosphäre. Die Kulisse ist ein wesentlicher Bestandteil des Mythos: Mal überschaubar und intim, mal monumentaler Hexenkessel. Genau diese Spannweite macht das Duell zwischen Fenerbahce und Galatasaray so einzigartig.
Die Torjäger des Wettbewerbs – Sporel, Lefter, Metin Oktay und Tanju Colak
Blickt man auf die Torjägerhistorie des Derbys, tauchen Namen auf, die längst Legendenstatus besitzen. Rekordtorschütze der Begegnungen ist Zeki Riza Sporel von Fenerbahce. In insgesamt 42 Spielen gegen Galatasaray erzielte er 27 Tore und setzte damit Maßstäbe, die bis heute Bestand haben. Ihm folgt mit 24 Treffern erneut ein Fenerbahce-Spieler: Alaattin Baydar prägte ebenfalls eine ganze Ära des Wettbewerbs.
Weitere große Namen in der Torjägerliste sind Lefter Kucukandonyadis mit 20 Toren für Fenerbahce und Metin Oktay, der für Galatasaray 19 Treffer im Derby erzielte. Gerade Metin Oktay ist bis heute untrennbar mit der Geschichte der Gelb-Roten verbunden und steht sinnbildlich für deren große Offensivtradition. In den Ligaspielen sind Metin Oktay mit 9 Toren für Galatasaray und Aykut Kocaman mit 8 Treffern für Fenerbahce die besten Schützen ihrer Klubs.
Eine besondere Rolle nimmt Tanju Colak ein, der als Stürmer für beide Klubs aktiv war. Er erzielte im Derby insgesamt 14 Tore, davon acht im Trikot von Fenerbahce. Damit gehört er zu jener seltenen Kategorie von Spielern, die sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite der Rivalität erfolgreich waren. In den Ligaduellen unterstreicht diese Statistik, wie sehr einzelne Angreifer den Verlauf der Derbygeschichte prägen können.
Turgay Serens Rekord und Jahre voller Sehnsucht
Der Rekord für die meisten Einsätze im Fenerbahce-Galatasaray-Derby gehört dem verstorbenen Torhüter Turgay Seren. Der frühere Nationalkeeper und einer der unvergesslichsten Schlussmänner von Galatasaray verteidigte das gelb-rote Tor in insgesamt 55 Partien gegen Fenerbahce. Damit hält er bis heute den Titel des Spielers mit den meisten Derbyeinsätzen und ist ein Symbol für Konstanz und Loyalität in diesem Wettbewerb.
In verschiedenen Phasen der Rivalität hatten beide Klubs zudem große Mühe, den jeweils anderen zu schlagen. Fenerbahce erlebte eine Serie von 11 sieglosen Spielen in Folge, während Galatasaray über einen längeren Zeitraum gleich 18 Spiele im Derby ohne Erfolg blieb. Nachdem Fenerbahce am 20. November 1949 ein 2:0 errang blieb der Klub aus Kadiköy in 11 aufeinanderfolgenden Partien ohne Sieg gegen den ewigen Rivalen und musste bis zum 22. Februar 1953 warten, ehe man gegen Galatasaray diese Durststrecke mit einem 1:0-Erfolg beendete.
Umgekehrt erlebte auch Galatasaray Jahre voller Sehnsucht. Nach einem 3:1-Sieg am 17. Mai 1942 gelang es den Gelb-Roten lange Zeit nicht, Fenerbahce erneut zu besiegen. Erst am 1. Dezember 1946 verließ Galatasaray das Feld wieder als 1:0-Sieger. Diese Phasen zeigen, wie sich das Kräfteverhältnis im Laufe der Jahrzehnte verschob und wie sehr längere Serien die Erzählung rund um das Derby geprägt haben.
19 Stadien, Vierer-Packs und extreme Ergebnisse
Im Laufe der Geschichte wurden Partien zwischen Fenerbahce und Galatasaray in insgesamt 19 verschiedenen Stadien ausgetragen. Die Rivalen standen sich unter anderem im Inönö-Stadion, im Ali-Sami-Yen-Stadion, im Fenerbahce-Stadion, in Taksim, im 19.-Mai-Stadion in Ankara, im Atatürk-Olympiastadion, in Izmir und Erzurum sowie in verschiedenen Stadien in Deutschland (Offenbach, Frankfurt, Köln, Gladbach) gegenüber. Diese breite Streuung der Spielorte unterstreicht, dass das Derby längst zu einer Marke geworden ist, die über Istanbul und die Landesgrenzen hinaus wirkt.
Auch bei den Ergebnissen gibt es einige markante Ausreißer. In der 116-jährigen Geschichte war das häufigste Resultat zwischen beiden Klubs ein 1:0. Insgesamt 75 Spiele endeten mit diesem knappen Ergebnis, hinzu kommen 50 Partien, die mit 2:1 entschieden wurden. Gerade diese knappen Resultate spiegeln den Charakter vieler Derbys wider: umkämpft, intensiv und häufig von einem einzigen Moment abhängig.
Dennoch gab es auch Spiele, in denen die Differenz deutlich ausfiel. Den höchsten Sieg in der Gesamtbilanz erzielte Galatasaray am 12. Februar 1911 in der Istanbul-Liga mit einem 7:0. In der Liga wiederum hielt Fenerbahce in der Saison 2002/2003 die spektakulärste Marke: Am 6. November 2002 gewann das Gelb-Marineblaue Team in Kadiköy mit 6:0 und feierte damit den Sieg mit der größten Tordifferenz in einem Ligaderby.
Die torreichsten Spiele und der Supercup von Sanliurfa
Die torreichsten Spiele zwischen Fenerbahce und Galatasaray boten den Fans jeweils acht Treffer. In einem Ligaspiel im Ali-Sami-Yen-Stadion Anfang der achtziger Jahre fielen beim Ergebnis von 5:3 insgesamt acht Tore, was damals als Spektakel für die Zuschauer galt. Ein weiteres Beispiel ist das Halbfinale des türkischen Pokals am 7. Februar 2001, das mit einem 4:4 endete und ebenfalls acht Treffer brachte. Beide Partien stehen stellvertretend für jene seltenen Derbytage, an denen jede Aktion in einem Tor zu enden scheint.
Eine ganz andere Art von Derby erlebte der türkische Fußball am 7. April 2024 im TFF-Supercup in Sanliurfa. Das Spiel dauerte faktisch nur eine Minute. Fenerbahce war aus Protest mit einer U19-Mannschaft angetreten, während Galatasaray in Bestbesetzung auflief. Schon in der ersten Minute brachte Mauro Icardi die Gelb-Roten mit 1:0 in Führung. Kurz darauf zog Fenerbahce seine Spieler vom Feld zurück, sodass Galatasaray das Spiel am grünen Tisch mit 3:0 gewann. Dieses „Derby“ ging weniger als sportliches Highlight, sondern vielmehr als Symbol für einen eskalierten Konflikt in die Annalen ein.
Zwischen torreichen Klassikern und politischen Supercup-Szenen zeigt sich, wie unterschiedlich das Derby interpretiert werden kann – mal als reines Spektakel, mal als Bühne für sportpolitische Botschaften. Für die Historie des Duells sind beide Varianten Teil des Gesamtbildes.
Schlägerei 1934, harte Strafen und ausländische Schiedsrichter
Nicht immer blieb es im Fenerbahce-Galatasaray-Derby bei sportlicher Rivalität. Besonders eindrucksvoll ist das Ligaspiel am 23. Februar 1934 in die Geschichte eingegangen, das wegen einer Massenschlägerei zwischen Spielern und Zuschauern abgebrochen wurde. Ausgangspunkt war ein Foul: Kadri Dag von Galatasaray trat gegen M. Resat Nayir von Fenerbahce, woraufhin Fikret Arican auf Kadri losging. Tevfik von Galatasaray warf sich dazwischen, doch die Situation eskalierte, als sich Zuschauer von den Tribünen in das Geschehen einmischten.
Die nach Spielabbruch tagende „Mintika Fußball-Delegation“ verhängte eine der härtesten Strafen in der türkischen Sportgeschichte: Neun Spieler von Fenerbahce und acht Spieler von Galatasaray wurden für längere Zeit gesperrt. Gewinner dieser massiven Sanktionen war am Ende ein Dritter: Besiktas profitierte von den Ausfällen der Rivalen und beendete die Saison vor beiden anderen Istanbuler Großklubs. Das Derby zeigte hier seine Schattenseiten – mit Folgen für die gesamte Liga.
In der langen Geschichte des Wettbewerbs kamen zudem immer wieder ausländische Schiedsrichter zum Einsatz. Unter anderem pfiffen tschechische, britische, griechische, italienische, österreichische, deutsche, schweizerische, rumänische, ungarische, jugoslawische, belgische und bulgarische Referees. Damit suchte man früh internationale Neutralität für dieses hochemotionale Spiel. Das letzte Ligaderby der beiden Mannschaften wurde vom slowenischen Schiedsrichter Slavko Vincic geleitet und fügt sich nahtlos in diese Tradition ein.
Eigentore, Vereinswechsel und der gemeinsame Kader „Fenersaray“
Neben klassischen Torjägergeschichten sorgten auch Eigentore und Vereinswechsel für besondere Kapitel im Derbybuch. Bahri Altintabak von Galatasaray sowie Seref Has und Nezihi Tosuncuk von Fenerbahce sind die Spieler, die in der Geschichte des Wettbewerbs sowohl das eigene als auch das gegnerische Tor trafen. Sie erlebten damit die ganze Spannweite von Glück und Pech in diesem Duell.
Hinzu kommt eine Gruppe von Spielern, die sowohl im Galatasaray- als auch im Fenerbahce-Trikot im Derby erfolgreich war. Sevki Senlen, Rashit Cetiner, Ilyas Riflecu, Hasan Vezir, Saffet Sanceci und Tanju Colak gehörten zu jenen Profis, die in beiden Farben Tore erzielten. Unter den Vereinswechslern fanden sich sogar Kapitäne: Fenerbahce-Kapitän Naci Erdem wechselte zu Galatasaray, während Mehmet Oguz den umgekehrten Weg zu Fenerbahce nahm – und beide gingen damit in die Derbychronik ein.
Eine der außergewöhnlichsten Episoden ist die Idee eines gemeinsamen Teams. Bereits in den frühen Jahren der Rivalität wurde eine Fusion der Klubs diskutiert, und es soll sogar eine Einigung der Präsidenten gegeben haben, eine gemeinsame Mannschaft zu bilden. In einer Ausgabe der Vereinszeitschrift von Galatasaray aus dem Jahr 2003 wurde berichtet, dass Adnan Isik Dokumente aus dem Jahr 1912 an Klubpräsident Ali Sami Yen übergeben habe, in denen eine gemeinsame Unterzeichnung mit Fenerbahce dokumentiert sei. Zudem traten beide Klubs 1934 als „Fenerbahce-Galatasaray Karma“ (genannt „Fenersaray„) gegen ausländische Teams an. Das Trikot dieses Kollektivs kombinierte Marineblau, Gelb und Rot – eine visuelle Mischung der Klubfarben und ein seltener Moment der Einheit im Zeichen des Wettbewerbs.
Fair Play, verschobene Spiele und die Gentleman-Geste von Özhan Canaydin
Trotz aller Härte und Spannung war der Wettbewerb zwischen Fenerbahce und Galatasaray immer wieder auch von Fair-Play-Gesten und Gentleman-Verhalten geprägt. Sporthistoriker erinnern daran, dass Funktionäre beider Seiten mehrfach Spiele verschieben wollten, um dem geschwächten Gegner entgegenzukommen. So soll Galip Kulaksoglu aus dem Fenerbahce-Hauptquartier vor einem Derby die Botschaft an Galatasaray geschickt haben: Man wolle den Gegner nicht mit fehlendem Personal sehen und sei bereit, das Spiel zu verlegen. Nach der Genesung ihrer Spieler gewann Galatasaray das verschobene Spiel am 20. Oktober 1914 mit einem deutlichen 6:1.
Eine weitere oft zitierte Szene berichtet von gemeinsam gemieteten Häusern, in denen Spieler beider Klubs wohnten, als der Wettbewerb gerade entstand. Die Athleten von Fenerbahce und Galatasaray trafen sich abends, unterhielten sich und pflegten abseits des Platzes freundschaftliche Beziehungen. Eines Nachts soll Ali Sami Yen die Fenerbahce-Spieler daran erinnert haben: „Morgen habt ihr ein Spiel gegen uns, geht ins Bett und ruht euch aus.“ Diese Anekdoten zeigen, dass Rivalität und Respekt sich nicht widersprechen müssen.
Ein modernes Symbol für diese Haltung lieferte der verstorbene Galatasaray-Präsident Özhan Canaydin. Am 6. November 2002, als Galatasaray in Kadiköy mit 0:6 unterging, applaudierte Canaydin auf der Tribüne den Toren des Gegners. Für diese Gentleman-Geste erhielt er zwar Kritik aus Teilen der eigenen Gemeinde, wurde aber 2002 vom World Fair Play Council (CIFP) mit dem World Fair Play Award ausgezeichnet. Zusätzlich ehrte das türkische Nationale Olympische Komitee (TMOK) ihn mit dem Fair-Play-Preis für sportliches Verhalten – ein starkes Zeichen dafür, dass das Derby auch Raum für Größe in der Niederlage bietet.
Warum das Derby mehr ist als nur ein Fußballspiel
All diese Geschichten – von winzigen Zuschauerzahlen bis zu Rekordkulissen, von Torjägern und Rekordspielern über abgebrochene Partien und harte Strafen bis hin zu Fair-Play-Gesten und Fusionsplänen – machen deutlich, warum das Duell Fenerbahce gegen Galatasaray weit über ein normales Ligaspiel hinausgeht (zum Nachlesen). Es ist zugleich sportlicher Wettstreit, historisches Archiv, Spiegel gesellschaftlicher Stimmungen und Bühne für große Charaktere. Jeder neue Anpfiff knüpft an ein dichtes Geflecht aus Erinnerungen an und schreibt ein weiteres Kapitel in ein Buch, das seit mehr als einem Jahrhundert geöffnet ist.
Der aktuelle Vergleich ist damit nicht nur das 404. Spiel zweier Mannschaften, sondern ein weiterer Moment in einem Wettbewerb, der im türkischen Sport einzigartig ist. Zwischen gemischten Teams wie „Fenersaray„, legendären Torjägern, extremen Ergebnissen und Gentleman-Figuren wie Özhan Canaydin zeigt sich immer wieder derselbe Kern: Das Derby lebt von Rivalität – aber es bleibt am schönsten, wenn es vom Geist des Respekts und der Fairness begleitet wird.


