Im April feierte Dele Alli seinen 26. Geburtstag. Bestes Fußballeralter, möchte man meinen. Und zugleich schießt die Frage in den Kopf, die einen so häufig bei Profis umtreibt, welche sehr früh in ihrer Laufbahn einen die nationalen Grenzen überschreitenden Hype entfachten: Alli ist tatsächlich erst 26? Hört man sich auf der Insel um, wo der Rechtsfuß in der letzten Dekade lange als DIE Zukunftshoffnung des englischen Fußballs galt, bekommt man schnell den Eindruck, sein Heimatland habe ihn abgeschrieben. Zu viel scheint passiert in den vergangenen Jahren seit seinem Tor im WM-Viertelfinale 2018 gegen Schweden, das die „Three Lions“ erstmals seit 1990 wieder in die Runde der letzten Vier beförderte. Die Frage, die man sich dort mit Blick auf Allis rückläufige sportliche Entwicklung heute in erster Linie stellt, ist, wann und wo eigentlich alles schief lief? In der Türkei hingegen überwiegt nach seinem Wechsel zu Besiktas die Euphorie – und die Hoffnung auf den Turnaround.
Im WM-Sommer 2018 gehörte Alli mit einem Marktwert in Höhe von 100 Millionen Euro zu den 20 wertvollsten Profis der Welt. Der in seinem Geburtsort Milton Keynes beim ansässigen Klub MK Dons ausgebildete Mittelfeldmann hatte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre als Stammspieler in der Premier League hinter sich, in denen er die überragende Quote von 66 Torbeteiligungen in 106 Ligapartien für Tottenham Hotspur verzeichnete.
„Nach seiner Debütsaison 2015/16 und der Auszeichnung als ‚PFA Young Player of the Year‘ galt Alli als größte englische Mittelfeldhoffnung, nachdem Steven Gerrard und Frank Lampard von der großen Bühne verschwunden und in die MLS gewechselt waren. In der Folge ging es zunächst weiter bergauf und als aggressiver Box-to-Box-Spieler rankte Alli schnell unter den jüngsten Spielern, die bestimmte Tor- und Torbeteiligungsmarken erreichten“, berichtet Daniel Busch, Transfermarkt Area Manager UK.
Bis heute ist Alli im Ranking der Spieler, die vor ihrem 22. Lebensjahr an den meisten Toren im englischen Oberhaus beteiligt waren, in den Top-10 gelistet – vor Akteuren wie Cristiano Ronaldo, Romelu Lukaku und Raheem Sterling. Mit 23 Jahren erzielte Alli sein 50. Premier-League-Tor – zum Vergleich: Lampard war 26, als er diese Marke knackte, Allis damaliger Teamkollege Harry Kane ebenfalls 23. Kane, von dem sie in England heute sagen, er werde auf Sicht Alan Shearers bestehenden Liga-Rekord von 260 Treffern brechen, steht aktuell bei 185 Toren. Bei Alli kam seit März 2019 nur noch ein Treffer hinzu.
Mit den vorherigen hatte er sich bis zu seinem Karrierehöhepunkt im Sommer 2018 bei den Spurs jedoch längst den Status ‚unverzichtbar‘ erarbeitet. So beendete Alli beispielsweise 2017 mit seinen zwei Toren gegen Antonio Contes FC Chelsea die bis dato 13 Siege währende Serie des ungeliebten Nachbarn und bescherte Tottenham im Folgejahr den ersten Erfolg seit 28 Jahren an der Stamford Bridge. Während er spielerisch nie als überragendes Talent galt, machten ihn doch sein unbekümmerter Charakter gepaart mit seinen körperliche Qualitäten in diesen Jahren zu einem absoluten Top-Spieler. „Dele Alli ist Dele Alli, weil er ein bisschen frech ist“, sagte Mauricio Pochettino damals über seinen Schützling. „Braucht er diese Frechheit? Ja, im Kontext. Er darf die Grenze nicht überschreiten, aber das ist ein bisschen seine Identität. Es ist sein Charakter – auf eine gute Art.“
„Den echten Dele zurückzubringen“: Mourinhos Mission in Tottenham scheiterte
Und doch änderten sich Einstellung und Leistungen des Spielers in der zweiten Hälfte des Jahres 2018 – attestiert auch Busch: „Auf sein Tor im WM-Viertelfinale folgte Tottenhams Lauf bis ins Champions-League-Finale 2019, in dessen Rahmen Alli zwar noch eine gute Rolle spielte, aber schon erste Leistungsschwankungen offenbarte. Nicht wenige brachten diese mit seinem neuen, höherdotierten Vertrag in Verbindung, den er nach dem Turnier in Russland an der White Hart Lane unterschrieben hatte.“
„Den echten Dele zurückzubringen“ machte sich José Mourinho 2019 nach seinem Amtsantritt zur persönlichen Mission, denn nach Pochettinos Entlassung war es für Alli sportlich weiter bergab gegangen und Gerüchte über Kommunikationsprobleme mit seinem neuen Coach machten die Runde. „Dem sensiblen Spieler schien die Nähe zum Trainer zu fehlen“, berichtet TM-Experte Busch. Die englische „Times“ zitiert den Portugiesen damals mit folgenden Worten, welche er an Alli gerichtet haben soll: „Ich bin jetzt 56 und gestern war ich 20. Die Zeit vergeht wie im Flug und ich denke, eines Tages wirst du es bereuen, wenn du nicht das erreichst, was du erreichen kannst. Ich erwarte nicht, dass Du in jedem Spiel ‚Man of the match‘ wirst. Ich erwarte nicht, dass Du in jedem Spiel Tore schießt. Ich möchte Dir nur sagen, dass Du es meiner Meinung nach bereuen wirst. Du solltest mehr von Dir verlangen. Nicht ich. Nicht irgendwer. Du. Ich finde, Du solltest mehr von Dir verlangen.“
Angesichts der Leistungsschwankungen verfestigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt bei vielen auf der Insel das Bild, Alli sei aufgrund seines kolportierten Wochenlohns von rund 100.000 Pfund und seinem lukrativen Sechsjahresvertrag satt. „Das Timing kann kein Zufall sein. Danach war nicht mehr so viel Teufel in ihm“, zitiert die „Times“ eine nicht genannte Quelle aus dem Klub. Auch das Umfeld des Spielers geriet ins kritische Auge der Boulevardmedien. Pochettino hatte sich bereits 2017 besorgt darüber geäußert, mit welcher Klientel sich der Profi abseits des Platzes umgebe. Auch Nuno Espirito Santo und Antonio Conte, die als Cheftrainer auf Mourinho folgten, kamen zu ähnlichen Schlüssen. „Trotz eines respektablen Starts unter Mourinho konnte Alli nach der Corona-Unterbrechung nicht mehr richtig Fuß fassen, was sich auch unter den folgenden Coaches fortsetze. Eine Wiedervereinigung mit ‚Poch‘ bei PSG scheiterte am Veto Daniel Levys“, so Busch.
Auch Frank Lampard, Allis Trainer im vergangenen halben Jahr nach dessen Wechsel zu Everton, warf dem Spieler einen Mangel an Einstellung und die Tatsache vor, sich im Training nicht genug anzubieten: „Für mich ist voller Einsatz im Training nicht verhandelbar, und ich denke, Dele muss verstehen, dass das für mich und für ihn wichtig ist“, so Lampard, der Alli seit Januar insgesamt nur elf Mal und nie über die volle Distanz von 90 Minuten einsetzte.
Dele Alli zu Besiktas: „In England gilt sein Talent mittlerweile als verschenkt“
Und nun? „Durch seinen Wechsel in die Türkei ist Alli in England erstmal komplett vom Radar und nur noch wenige trauen ihm eine Rückkehr auf die große Bühne zu. Obwohl er erst 26 ist und die besten Jahre eigentlich noch hätten kommen sollen, gilt sein Talent mittlerweile als verschenkt und es ist schwer vorstellbar, wie ein Wechsel zu Besiktas Alli helfen soll, noch einmal ganz oben anzugreifen. Ein gutes Netto-Gehalt und ein Wechsel in ein anderes Umfeld scheinen für seine Entscheidung eher eine Rolle gespielt zu haben. Es bleibt zu hoffen, dass das einstige Top-Talent am Bosporus wieder mehr emotionale Wärme erfährt, den Kopf freibekommt und seine Leichtigkeit wiederfindet, die einst seine große Stärke war“, bilanziert TM-Experte Busch.
Die Türken sicherten sich die Dienste des einstigen englischen Nationalspielers für die Saison 2022/23 per Leihe und haben im Anschluss eine Kaufoption. Alli verdient laut einer Pressemitteilung Besiktas‘ 2,2 Mio. Euro netto und kostet keine Leihgebühr. Am Bosporus überwiegt in diesen Tagen deutlich die Freude über den Deal, dennoch treten einige auch auf die Euphoriebremse, weiß Lara Karacan, Content Lead Transfermarkt.com.tr: „Einige Besiktas-Fans nehmen sich auch ein wenig zurück, da sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Miralem Pjanic gemacht haben und bei manch einem die Befürchtung besteht, dass Alli ähnlich floppen könnte.“
Welche sportliche Rolle der Engländer bei Besiktas spielen wird, bleibt abzuwarten. „Das wird sehr spannend sein. Valérien Ismaëls Lieblingssystem ist das 3-4-3, welches er aber mit Anfang der neuen Saison aufgegeben hat und auf ein 4-3-3 (bzw. 4-1-4-1) gewechselt ist. Mit dem Transfer von Alli wäre das neue System, in dem der Engländer beispielsweise mit Gedson Fernandes die 10er Position einnehmen würde, plus einem starker 6er in Person von Josef, ein starkes Mittelfeld“, so Karacan, die ergänzt: „Sollte Ismael doch auf 3-4-3 zurückstellen, würde das Alli nicht in die Karten spielen, da es in diesem System keinen klassischen 10er gäbe und Alli seine Fähigkeiten hier nur begrenzt ausspielen kann. Nichtsdestotrotz ist die Anforderung bei Besiktas klar: Viele Torchancen kreieren und zusätzlich auch selbst einige Tore schießen. Die Erwartungshaltung ist (wie immer) groß.“
Dele Alli über Besiktas-Transfer: „Leidenschaft hier ist unglaublich“
Alli selbst präsentierte sich nach Ankunft in Istanbul optimistisch: „Es ist das erste Mal, dass ich für einen Verein im Ausland spiele, aber seit ich hier bin, habe ich ein großartiges Gefühl. Die Leidenschaft, die ich hier bereits spüre, ist unglaublich. Ich freue mich darauf, anzufangen und loszulegen, es ist eine neue Herausforderung für mich.“ Nimmt man seine, bei Transferverkündungen im Allgemeinen ja oftmals eher inhaltslosen Worte für voll, so hat er sich selbst im Gegensatz zu manch anderem noch nicht abgeschrieben: „Ich möchte den Fans für ihre bisherige Unterstützung danken, ich werde es ihnen zurückzahlen und jede Minute, die ich auf dem Platz stehe, für sie kämpfen.“ Auch im Training wolle er fortan „hart arbeiten“ – in Hoffnung auf eine Rückkehr zu altem Glanz.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf transfermarkt.de
Autor: Thomas Deterding