Hatayspor gilt als unbeschriebenes Blatt im türkischen und erst recht im europäischen Fußball. Im Vorjahr hat der Klub aus der rund 200.000 Einwohner zählenden Stadt Antakya im Süden des Landes erstmals den Aufstieg in die Süper Lig gefeiert – und fast ein Jahr später ist die Premiere als voller Erfolg einzustufen, da Hatay die Saison 2020/21 auf dem sechsten Platz beendete und nur um vier Punkte den Einzug ins internationale Geschäft verpasste. In Europas Top-10-Ligen stand kein Aufsteiger besser da als die vom gebürtig aus Kassel stammenden Ömer Erdogan trainierte Mannschaft. Im Transfermarkt-Interview spricht der 44-Jährige über die Entwicklung des Klubs, die Zusammenarbeit mit Ex-Bundesliga-Angreifer Mame Diouf (33) sowie drohende Abgänge von Leistungsträgern.
Transfermarkt: Hallo Herr Erdogan, Hatayspor spielte in der abgelaufenen Saison erstmals in der Süper Lig und war der beste Aufsteiger in Europas Top-10-Ligen. 2018 war der Klub noch in der dritten Liga aktiv. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Erdogan: Die Erwartung war, dass wir erst einmal die Klasse halten. In der Regel steigen von drei Aufsteigern zwei wieder ab. Wir hatten aufgrund der Corona-Pandemie nicht so viel Zeit, da die vergangene Saison erst spät zu Ende war. Nachdem ich Ende August kurz vor Saisonbeginn meinen Vertrag unterschrieben habe, blieb uns nicht lange, um eine Mannschaft aufzubauen. Wir mussten fast das komplette Team austauschen, da ich in vielen Abgängen nicht das Potenzial für die Süper Lig gesehen habe. In meiner Zeit ohne Job habe ich mich mit meinem Trainerteam auf eine neue Aufgabe vorbereitet und wir haben sehr viele Spiele in Europa, Afrika und Südamerika angeschaut. Die interessantesten Spieler haben wir uns notiert. In der Vorbereitungsphase mussten wir zunächst mit 13, 14 Profis auskommen, da die meisten Neuzugänge in der Woche vor dem Ligastart zu uns stießen.
Transfermarkt: In den ersten zwei Spielen mussten Sie direkt gegen Basaksehir, den Vorjahresmeister, und Fenerbahce antreten.
Erdogan: Als neuer Trainer musste ich mich beweisen, denn der Start ist enorm wichtig. Wir haben die Neuzugänge aber sehr schnell integriert, obwohl die meisten zum ersten Mal in der Türkei gespielt haben. Wir sind eine gute Familie geworden. Ich habe ihnen erzählt, was ich von ihnen verlange und was für ein System wir spielen wollen. Das hat sich von Woche zu Woche verbessert. Wir haben wichtige Spiele oft hoch gewonnen, wodurch die Moral der Spieler und das Selbstvertrauen gestiegen sind. Hätten wir am vorletzten Spieltag nicht einen, sondern drei Punkte geholt, wären wir vielleicht noch Fünfter geworden und in die Europa Conference League eingezogen. Wir haben mit zwei anderen Vereinen den attraktivsten Fußball gespielt und Leuten hat es Spaß gemacht, uns zuzusehen.
Transfermarkt: Hatayspor stellt die fünftbeste Offensive der Liga und mit Mame Diouf (33) und Aaron Boupendza (24) zwei Profis der Top-3 im Torjäger-Ranking. Was zeichnet die Mannschaft aus?
Erdogan: Natürlich ist es wichtig, dass wir die Tore machen, aber es ist auch entscheidend, wo diese Tore herkommen – und dafür sind andere Spieler zuständig. Wir haben immer versucht, hoch zu pressen und im Ballbesitz schnell zu agieren. Nach einem Ballgewinn haben wir sehr schnell nach vorne gespielt. Im Angriff konnten wir die Schnelligkeit unserer Stürmer ausnutzen. In der Regel haben wir ein 4-2-3-1 gespielt, aber innerhalb der 90 Minuten haben wir oft auf ein 4-3-3 oder ein 3-4-3 gewechselt. Das hat den Spielern gutgetan und sie haben es gut umgesetzt. Wir haben sehr viele Analysen gemacht und sowohl Stärken als auch Schwächen bei den Gegnern herausgearbeitet. Wir haben oft versucht, die Fehler und die Lücken in der Defensive zu finden. Das haben wir die gesamte Woche ausgearbeitet und trainiert. Wenn man am Spieltag dadurch erfolgreich ist, steigt das Selbstvertrauen der Spieler in sich selbst und ins Trainerteam.
Transfermarkt: Sind Sie davon ausgegangen, dass Ihr System in der ersten Liga Erfolg haben wird?
Erdogan: Ich habe den Spielern gesagt, dass die beste Verteidigung in der Offensive beginnt. Wir wollten den Ball weit von unserem Tor weghalten. Meine Art ist es, dass die Spieler Spaß haben und wir den Leuten etwas zeigen. Wir sind das Risiko gegangen und haben dadurch unser Selbstvertrauen gesteigert. Wir hätten uns auch hinten reinstellen können und auf Konter lauern, aber die Spieler, die wir geholt haben, konnten unser System spielen. Nach diesem System haben wir die Spieler geholt. Deshalb war es für mich leichter, ihnen das System zu erklären.
Transfermarkt: Hatayspor hat vor dem Aufstieg einen großen Umbruch vollzogen, dazu gab es den Wechsel auf der Trainerbank. Wie ist es dem Klub gelungen, diesen Umbruch so erfolgreich zu gestalten?
Erdogan: Mein Trainerstab ist nicht nur fachlich, sondern auch menschlich sehr gut. Als ich meinen Trainerstab zusammengestellt habe, habe ich sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir mit den Spielern sehr gut kommunizieren und wie eine Familie funktionieren. Ich bin zu den Spielern nicht nur wie ein Trainer, sondern auch wie ein Freund oder ein Familienangehöriger. Ich suche die Nähe zu ihnen und informiere mich über die jeweilige Kultur. Bevor wir einen Spieler geholt haben, haben wir uns darüber informiert, wie er charakterlich tickt – und vom Charakter her waren wir eine sehr gute Einheit. Ich habe den Spielern über die Liga erzählt, in der ich ja 15 Jahre gespielt habe. Die direkte Kommunikation war entscheidend, da ich neben Türkisch auch Deutsch und Englisch spreche. In der Türkei sprechen die Trainer meistens nicht so gutes Englisch, weshalb oft ein Dolmetscher dabei ist. Das finde ich im Vergleich zu einem persönlichen Gespräch nicht so gut. Ich wusste, welches Potenzial die Jungs haben, und damit haben wir gearbeitet. Wir haben von jedem Spieler profitiert, beispielsweise von einem Mame Diouf. Er war auf dem Spielfeld meine rechte Hand und wir haben viele Gespräche mit ihm geführt, was auch der Mannschaft wiederum geholfen hat. Aaron Boupendza war ein Spieler, der in den zwei, drei Jahren vor seinem Wechsel keine guten Stats hatte und nur wenig Spiele absolvierte. Ihm ist in Portugal und Frankreich der Durchbruch nicht gelungen, aber ich habe immer das Potenzial in ihm gesehen, das musste man wecken – und das haben wir geschafft.
Transfermarkt: Besonders an Durchstarter Boupendza soll es Interesse aus dem Ausland geben. Ist Hatayspor gezwungen, Top-Spieler abzugeben, um die Zukunft in der ersten Liga zu gewährleisten?
Erdogan: Wir gehen davon aus, dass Boupendza uns verlassen wird. Bei den Summen, die vorgelegt werden, ist es für den Verein sehr wichtig. Als Trainer würde ich mir wünschen, dass wir weiter mit ihm arbeiten. Er hat aber auch andere Ziele und ist in einem Alter und einem körperlichen Zustand, in dem er zu guten Vereinen aus Europa gehen kann. Dafür habe ich auch Verständnis. Mit ihm werden uns auch vier, fünf weitere Spieler, die oft in der Startelf gestanden haben, verlassen. Darunter Leihspieler, mit denen wir leider nicht verlängern konnten, weil sie aufgrund ihrer starken Saison auch andere Angebote und Pläne haben. Finanziell können wir uns mit ihnen nicht mehr einigen, weil sie mehr verlangen, als der Verein geben wird. Deswegen müssen wir erneut eine halbe Mannschaft formieren.
Transfermarkt: Sind sie auf diese Situation vorbereitet?
Erdogan: Der gesamte Trainerstab hat sich seit drei Monaten auf eventuelle Abgänge vorbereitet, und wir haben wieder interessante Spieler gefunden, mit denen der Verein spricht. Wir hoffen, dass es zeitnah etwas zu vermelden gibt. Ich würde mir wünschen, mit dem gleichen Kader, mit dem wir so erfolgreich gespielt haben, weiterzumachen, aber im Profifußball ist das leider nicht so einfach. Wir müssen da jetzt durch, und ich hoffe, dass die Neuzugänge sich schnell integrieren, genauso wie ihre Vorgänger.
Transfermarkt: Hatayspor hat nach Göztepe und Mitaufsteiger Karagümrük den prozentual stärksten Marktwert-Zuwachs innerhalb der Saison hingelegt und sich von Platz 15 auf Platz acht gesteigert. Elf Spieler steigerten ihre Marktwerte, darunter Boupendza, der den größten Zuwachs von 100.000 Euro auf 8,5 Mio. Euro hinlegte. Wie denken Sie darüber?
Erdogan: Wir haben viele Spieler geholt, die No-Names waren und noch nie in der Süper Lig gespielt haben. Einen David Akintola, der vom FC Midtjylland verliehen war, kannte in Europa keiner. Der ist jetzt bei guten Vereinen in Italien im Gespräch. Boupendza hat momentan Angebote in Höhe von 7 und 8 Mio. Euro von italienischen und deutschen Vereinen. Jeder Spieler hat an Wert zugelegt.
Transfermarkt: Die Neuzugänge sind voll eingeschlagen und kamen überwiegend ablösefrei. Wie stellt sich der Verein im Hintergrund auf?
Erdogan: Wir sind ein Aufsteiger und wollen uns in den kommenden Jahren in allen Bereichen professioneller aufstellen. Dafür hilft uns der Vorstand und der Bürgermeister (Lütfü Savas; Anm. d. Red.), der auch Ehrenpräsident ist und viel zu sagen hat. Wir wollen auch ein neues Trainingszentrum aufbauen, dabei hilft uns der Bürgermeister. Die Bedingungen sind nicht so professionell, wie man sich das wünscht. Wir haben nur einen Trainingsplatz, und das ist für eine Mannschaft in der Süper Lig nicht ausreichend. In Bezug aufs Scouting habe ich meinen Stab, dem ich vertraue und mit dem ich sehr eng bin. Der Verein weiß, dass wir uns verbessern müssen. Es ist nicht leicht, von heute auf morgen den Umbruch zu schaffen, aber wenn man positive Menschen im Verein hat, dann ist es hoffentlich machbar.
Transfermarkt: In einem Interview mit „Sport1“ haben Sie erklärt, dass der „Mix aus deutschen Tugenden und türkischer Leidenschaft die Sache spannend“ macht. Wie spiegelt sich das in Ihrer Arbeit wider?
Erdogan: Ich bin sehr diszipliniert, das habe ich aus meiner Jugendzeit und meiner Fußballerkarriere in Deutschland mitgenommen. Ich versuche immer, mich weiterzuentwickeln. Ich will immer etwas lernen, das trage ich auch an meine Spieler heran. Aber ich habe auch die Leidenschaft aufgrund der türkischen Wurzeln. Es ist also ein Mix aus beidem, und das funktioniert sehr gut.
Transfermarkt: Sie waren als einer der Rekordspieler der türkischen Süper Lig für Ihre harte Spielweise bekannt, als Trainer lassen Sie einen sehr ansehnlichen Fußball spielen. Wie ist Ihr Stil entstanden?
Erdogan: Ich hatte die Chance, bei mehreren Trainern zu hospitieren, beispielsweise Roger Schmidt, Thomas Tuchel, Jürgen Klopp und Lucien Favre. Aber auch bei meinem früheren Teamkollegen André Schubert oder bei meinem ehemaligen Nationaltrainer in der Türkei, Guus Hiddink, als er beim FC Chelsea war. Ich habe mir vieles von ihnen abgeguckt. Nach meiner Zeit als Aktiver habe ich mich auf das Trainergeschäft vorbereitet. Mein Ziel war es immer, wenn ich den Job anfange, vorbereitet zu sein. Ich habe versucht, mein eigenes System zu entwickeln, nachdem ich die verschiedenen Trainer beobachtet habe.
Transfermarkt: Mitaufsteiger Karagümrük hat die Saison auf Platz acht beendet. Sie haben dort im Vorjahr Ihren Teil zum Aufstieg beigetragen und waren zwischen Anfang Januar und Ende Juni 2020 in zwölf Partien als Trainer aktiv. Nur ein Spiel ging unter Ihrer Leitung verloren. Trotzdem war für Sie vor den Playoffs Schluss. Wie kam es dazu?
Erdogan: Ich habe Karagümrük im Winter auf Platz elf übernommen und in Richtung Playoffs geführt. Danach hatte ich Probleme mit dem Vereinspräsidenten (Süleyman Hurma; Anm. d. Red.), wir sind nicht miteinander klargekommen. Es gab Unstimmigkeiten in Bezug auf die Saisonplanung für die kommende Spielzeit, deshalb habe ich dort gekündigt.
Transfermarkt: Wie hat Sie dann Hatayspor in die erste Liga geholt?
Erdogan: Sie haben meine Arbeit in der zweiten Liga verfolgt, sie waren ja auch in der gleichen Liga und sind dort als Meister direkt aufgestiegen. Hatayspor hat sich bei mir gemeldet, und der Job war sehr reizvoll für mich.
Transfermarkt: Das Ende der abgelaufenen Saison liegt zwar nicht lange zurück, aber gibt es schon Ziele für die kommende Spielzeit?
Erdogan: Die Erwartungen sind hoch, aber man muss realistisch sein, das habe ich auch den Verantwortlichen mitgeteilt. Es ist wichtig, wie wir die Transferperiode gestalten. Wenn wir die Spieler holen können, die ich mir wünsche, dann hoffe ich, dass wir eine ähnlich starke Saison wie die abgelaufene spielen. Unser Ziel ist eine Platzierung innerhalb der Top-10.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf transfermarkt.de
Autor: Pascal Martin
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