Europäische Trainer haben bei der kenianischen Nationalmannschaft eine lange Tradition. Mit Eckhard Krautzun (1970-74), Reinhard Fabisch (1996-98) und Antoine Hey (2009) standen in der Vergangenheit drei Deutsche an der Seitenlinie und auch aus Frankreich, Belgien, Schottland, Österreich und England kamen die Übungsleiter bereits. Seit wenigen Wochen wird dieses Kapitel mit dem deutsch-türkischen Fußballlehrer Engin Firat fortgesetzt. Im Interview mit Transfermarkt spricht er über den Stellenwert des Sports, seine Entscheidung nach Afrika zu gehen und die schwierigen Trainingsbedingungen.
Betrachtet man den Fußball in seiner Ursprungsform, handelt es sich um ein zwischen zwei Mannschaften ausgetragenes Ballspiel. Für die meisten Menschen in Europa ist der Fußball eine Art Hobby oder Freizeitbeschäftigung. Für die Menschen in Armuts- oder Krisengebieten ist er hingegen mehr: Es ist das Klammern an bessere Zeiten, der Versuch, Abwechslung in ihren tristen Alltag zu bekommen und die Möglichkeit, das Erlebte zu verdrängen oder gar zu vergessen. Auch wenn Kenia in Afrika als starke Wirtschaftsnation gilt, leben mehr als die Hälfte der Menschen im Land unterhalb der Armutsgrenze. Auch an dem neuen kenianischen Nationaltrainer Engin Firat geht diese Situation nicht spurlos vorbei. „Jeder Mensch mit Empathie kann sich in die Situation hineinversetzen, in der sich viele Menschen in Kenia befinden. Auch wenn Leichtathletik der Volkssport Nummer 1 ist, merke ich, welche Bedeutung der Fußball und ganz besonders die Nationalmannschaft besitzt. Für die Menschen ist es eine Art Ablenkung von den Alltagssorgen und Problemen.“
Die Kenianer habe Firat als lebensbejahende Menschen kennengelernt. „Wenn ich überlege, worüber wir Deutsche uns manchmal aufregen, muss man wohl festhalten, dass es uns vielleicht zu gut geht. Die Kenianer starten mit einer unfassbaren Lebensfreude in den Tag, die wirklich ansteckend ist und schlechte Laune sofort verfliegen lässt. Was mich begeistert, ist der respektvolle Umgang untereinander. In meiner Mannschaft sind 90 Prozent dem Christentum angehörig und 10 Prozent sind muslimischen Glaubens. Vor dem Training oder dem Essen wird gemeinsam gebetet und es gibt kein schlechtes oder böses Wort über die andere Religion. Ich finde, dass sollten wir als Vorbild nehmen und mehr nach Gemeinsamkeiten Ausschau halten, als nach Dingen, die uns trennen.“
Für Firat begann die Begeisterung über seinen heutigen Arbeitsstandort schon früh: „Ich habe als Kind eine Dokumentation über Kenia und die Safari gesehen und laut gesagt: ‚Da will ich irgendwann auch einmal hin.‘ Generell finde ich exotische Nationalmannschaften zu trainieren spannender, als beispielsweise eine Bundesliga-Mannschaft, weil es keine Automatismen gibt. Man kennt nie die Probleme, die auf einen zukommen und das stellt einen besonderen Reiz dar, da man als Trainer zu 100 Prozent gefordert wird. Zudem musst du in kürzerer Zeit eine Mannschaft formen, die mit ihrer Spielweise die Werte und die Mentalität des Landes widerspiegelt.“
Firats ungewöhnliche Vita: Über die Türkei, den Iran und Moldawien nach Kenia
Für den Deutsch-Türken ist es auch eine Selbstverständlichkeit, sesshaft im ostafrikanischen Land zu werden. „Es bestand auch die Möglichkeit, zu den Länderspielen zu jetten, aber das wollte ich nicht. Ich möchte, dass die Menschen sehen, dass mir die Aufgabe wirklich am Herzen liegt. Ich finde es auch wichtig, über die Märkte zu schlendern, um die Stimmung im Land aufzuschnappen. Was in den Medien steht, ist eine Sache, aber was die Menschen draußen fühlen, eine andere“, sagt der 51-Jährige, der eine ungewöhnliche Vita vorzuweisen hat.
Nach Engagements als Assistent von Werner Lorant bei Fenerbahce oder von Ali Daei bei der Nationalmannschaft des Irans führte ihn der Weg als Cheftrainer nach drei weiteren Stationen im Iran nach Moldawien und nun nach Kenia. „Es klingt vielleicht komisch, aber mein Antrieb war nie in der Bundesliga zu landen, sondern eher möglichst viel von der Welt zu sehen. Meine innere Motivation ist auch nicht Geld oder Bekanntheit. Wenn ich morgen in Südamerika eine U19-Mannschaft übernehmen müsste, würde ich mit der gleichen Leidenschaft zu Werke gehen, wie bei einer Nationalmannschaft oder einem europäischen Top-Team. Jedes Land bietet unglaublich viele kulturelle wie gesellschaftliche Schätze. Diese zu entdecken, macht unglaublich viel Spaß und deshalb bin ich froh und dankbar über jede einzelne Auslandsstation“, betont der UEFA-Pro-Lizenz-Inhaber.
Als 104. der FIFA-Weltrangliste ist die Qualifikation für die erste Weltmeisterschaft der große Traum, wenngleich die Begeisterung und Freude der Menschen, die von den Partien der Nationalmannschaft ausgelöst werden, nicht zwingend an Erfolge gebunden ist. In der WM-Quali setzte es zum Auftakt von Firat in der Gruppe E zwei Niederlagen (0:5 und 0:1) gegen Tabellenführer Mali, die bei einem Marktwertunterschied von 80 Millionen Euro als klarer Favorit in die Partien gegangen waren. Trotzdem sorgten die Niederlagen dafür, dass Kenia nun sechs Punkte Rückstand auf den Tabellenzweiten Uganda aufweist. Für den Trainer noch kein Grund zur Panik, zumal es noch zu direkten Duellen mit Uganda kommt.
Die Pleiten gegen Mali ordnet Firat einem bisherigen Hauptproblem zu – der Disziplinlosigkeit. „Symptomatisch war das 0:5 gegen Mali. Es wurde sich nicht an Absprachen gehalten, die Jungs sind als Einzelkämpfer aufgetreten und nicht als Team. Sie müssen lernen, dass jeder noch so kleine Fehler eiskalt bestraft wird. Vor allem gegen Mannschaften, die Profis in ihren Reihen haben, die in Europa spielen. Bei der zweiten Niederlage waren wir auf Augenhöhe, weil wir ganz anders aufgetreten sind. Es braucht nun mal Zeit, bis sich die Abläufe eingespielt und alle verinnerlicht haben, dass sie die Qualität besitzen, auch die Großen zu ärgern, wenn nicht sogar zu schlagen“, betont er.
Firat hat zwei Details ausgemacht, weshalb einige afrikanische Nationalteams seit Jahren in ihrer Entwicklung stagnieren. „In meinen Augen sind die schlechte Organisation und die fehlende Infrastruktur ein großes Manko vieler Länder, auch im Falle von Kenia. Beispielsweise habe ich zur Regeneration meiner Spieler um bestimmte Utensilien gebeten. Entweder kamen diese Dinge gar nicht oder sehr verspätet. Die ersten Trainingseinheiten konnte ich nicht absolvieren, weil unser Trainingsplatz mit einem schlechten Bolzplatz in Deutschland vergleichbar war. Ich habe dann zu unserem Präsidenten gesagt, entweder wir ändern die Einstellung und Mentalität gemeinsam oder ich sage den Jungs, sie sollen in Zukunft lieber auf E-Sport umsatteln und Playstation spielen“, so Firat. „Ich formuliere vieles überspitzt, weil ich die Menschen sensibilisieren will.“
„Die Kenianer besitzen unfassbar großes Talent. Es wäre eine Tragödie, wenn sie es einfach so wegschmeißen würden. Wenn man als Trainer ins Ausland geht, sollte einem auch bewusst sein, dass die Bedingungen niemals wie in Deutschland sind. Es gibt dabei zwei Trainertypen: Die einen jammern über die Probleme und die anderen haben mindestens drei Lösungsvorschläge in der Tasche“, erklärt der 51-Jährige, der möchte, dass die Nationalmannschaft den kenianischen Wahlspruch „Harambee“ – was so viel heißt wie: „Lasst uns alle gemeinsam etwas bewegen“ – verinnerlicht und auch so auftritt.
Genau dieser Zusammenhalt war aber oftmals das Problem. „Mir wurde zugetragen, dass es in der Vergangenheit Nationalspieler gab, die im Ausland tätig waren und sich aufgrund des verdienten Geldes in der Kabine wie Könige aufgeführt und die anderen von oben herab behandelt haben. So etwas dulde ich nicht, die fliegen rigoros raus. Die Nationalmannschaft sollte für jeden Spieler ein Sprungbrett sein, auf dem Weg ihre Träume zu verwirklichen“, macht Firat unmissverständlich klar. Die derzeitigen Stars wie Michael Olunga (Al-Duhail SC) und Joseph Okumu (KAA Gent) legen ein solches Verhalten jedoch nicht an den Tag.
„Michael und Joseph sind fantastische Jungs. Sie sind bodenständig, wirken sehr demütig und dankbar für ihre bisherige Karriere. Was mich besonders beeindruckt, ist die Tatsache, dass die beiden ihre Mitspieler in jedem Training pushen und ein ehrliches Interesse daran haben, sie voran zu bringen. Das ist für mich gelebtes Harambee.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf transfermarkt.de
Interview von Henrik Stadnischenko