Im Sommer 2018 stand LOSC Lille am Scheideweg. Den Abstieg aus der Ligue 1 erst am vorletzten Spieltag abgewendet, mussten die Verantwortlichen des viermaligen Meisters schwerwiegende Transferentscheidungen tätigen. Aufgrund drohender Probleme mit dem Financial Fair Play wurden Leistungsträger für insgesamt 58,8 Millionen Euro verkauft, Neuzugänge kamen für lediglich 8,9 Mio. Euro. Aus der Not machte der Klub aus Nordfrankreich jedoch eine Tugend – und entdeckte plötzlich den türkischen Markt für sich.
Seit jenem Sommer beendete Lille die französische Meisterschaft nacheinander auf den Plätzen zwei und vier, in der laufenden Saison ist das Team von Trainer Christophe Galtier Tabellenführer. Bricht man den Erfolg der letzten Jahre auf einzelne Gesichter herunter, kommt man nicht um die prägenden Offensivspieler wie Nicolas Pépé (24) und Victor Osimhen (21), die in den vergangenen beiden Sommern für insgesamt 150 Mio. Euro verkauft wurden, oder Jonathan Ikoné (22) herum. Die gute Transferpolitik spiegelt sich aber auch in einem türkischen Trio wieder, das sich Lille über die letzten drei Jahre zusammengestellt hat.
Der erste Schritt wurde mit der Verpflichtung von Zeki Celik (23) im Transferfenster nach dem Beinahe-Abstieg 2018 gemacht. 2,5 Mio. Euro zahlte LOSC an Istanbulspor, bis heute ist der Rechtsverteidiger Rekordabgang des türkischen Zweitligisten. Auch wenn sich Lille damit im Rahmen seiner finanziell begrenzten Möglichkeiten bewegte, erschien der Deal auf den ersten Blick ungewöhnlich. „Celik war nicht sonderlich bekannt, viele Experten in der Türkei wunderten sich über die hohe Ablösesumme für einen Zweitliga-Spieler. Niemand glaubte an ihn, aber er entwickelte sich in kurzer Zeit zur Stammkraft“, blickt Gökhan Yagmur, TM-Area-Manager Türkei, zurück.
Direkt in der ersten Saison stand Celik in 34 Spielen von Beginn an auf dem Platz, hielt seine Seite defensiv sauber und überzeugte auch in der Offensive (ein Tor, fünf Assists). Und Lille? Die hatten von nun an Gefallen am türkischen Markt gefunden. Nachdem die Saison 2018/19 mit der Vizemeisterschaft und der Qualifikation für die Champions League endete, und der Rekordverkauf von Pépé zum FC Arsenal (80 Mio. Euro) weiteres Geld in die Kassen spülte, investierte Sportdirektor Luís Campos 17,5 Mio. Euro in die Verpflichtung von Yusuf Yazici (23).
Nie zuvor hatte LOSC einen höheren Betrag für einen Neuzugang gezahlt. Seine Klasse konnte der offensive Mittelfeldmann nur zu Saisonbeginn zeigen, ehe ihn ein Kreuzbandriss mehrere Monate außer Gefecht setzte. In der laufenden Spielzeit ist ihm die Verletzung noch anzumerken, Yazici kam in den ersten Partien zunächst von der Bank. Beim 4:0-Erfolg gegen RC Lens am vergangenen Wochenende erzielte er aber zumindest seinen ersten Treffer seit fast einem Jahr, als er in der 79. Minute auf Vorlage von Jonathan Bamba zum Endstand einschob.
LOSC Lille: „König“ Yilmaz stiehlt Rekordeinkauf David die Show
Knapp 70 Minuten zuvor hatte ein weiterer Landsmann Yazicis die „Doggen“ in Führung gebracht. Burak Yilmaz (35) – der dritte Türke im Bunde – kam im Sommer ablösefrei von Besiktas Istanbul nach Frankreich. Nach 16 Jahren in der Türkei, die nur von einem kurzen Intermezzo in China unterbrochen wurden, wagte der bullige Angreifer im Alter von 35 Jahren zum ersten Mal den Schritt in Richtung Westeuropa. Die Fußstapfen, die 70-Mio-Abgang Osimhen hinterlassen hatte, sollten aber eigentlich in erster Linie von 27-Mio-Einkauf Jonathan David (20) ausgefüllt werden.
„Eigentlich war zu erwarten, dass Yilmaz zunächst als Back-up geholt wird und als Mentor für den jungen David agieren soll. Entgegen der Erwartungen war es bislang aber vor allem der Erfahrene, der für die Tore sorgte“, so Yagmur. Drei sind es bisher an der Zahl, unter den Teamkollegen traf nur Linksaußen Bamba ebenso oft. Statt Yilmaz hinter dem Kanadier auf der Bank sitzen zu lassen, bietet Gaultier beide Angreifer im nach der Corona-Unterbrechung installieren 4-4-2 gemeinsam auf – mit Erfolg.
Zwar wartet David noch auf seinen ersten Scorerpunkt, hat angesichts der treffsicheren Teamkollegen aber auch noch keinen Druck. Die Aufmerksamkeit der Medien richtete sich in den vergangenen Tagen ohnehin eher auf Yilmaz, der in der Türkei hohes Ansehen genießt, in Westeuropa aber häufig unter dem Radar lief. Der Twitter-Account des Ligue-1-Klubs bezeichnete den Rechtsfuß nach seinem Tor gegen Lens bereits als ‚Kral‘ – auf Deutsch: König.
Auf LOSC wartet eine spannende Saison, die mit dem Auftakt in der Europa League gegen Sparta Prag (Donnerstag 21 Uhr/im TM-Liveticker) auch auf internationaler Ebene erfolgreich weiter gehen soll. Fest steht schon jetzt: Die Zuschauerzahlen aus der Türkei werden weitaus höher sein als sonst – und dürften es auch noch in den kommenden Jahren bleiben. Mit Mustafa Kapi (18), der nach Unstimmigkeiten mit seinem Ex-Klub Galatasaray Istanbul in diesem Sommer in die zweite Mannschaft Lilles wechselte, steht das nächste Talent bereits in den Startlöchern. Yagmur, der ein größeres Werben türkischer Klubs um den zentralen Mittelfeldspieler erwartet hatte, ist sich sicher: „Er wird seinen Weg bei Lille machen.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf transfermarkt.de
Autor: Lennart Gens