Nach fünfjähriger Arbeit in einem ruhigen und sterilen Umfeld wollte Abdullah Avci seinen Träumen nachgehen. Aber zum Pech des Taktikfuchses fand sich dieser nach seiner Vorstellung bei Besiktas ganz schnell im Chaos wieder und erlebte wohl die schlimmsten sechs Monate seines Trainer-Daseins. GazeteFutbol-Redakteur Cihad Kökten lässt die Hinrunde von Besiktas unter Avci Revue passieren und beantwortet die Frage, wie es zur Entlassung kam.
Bilic ohne Erfolg – Günes zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Der Sommer 2015 verlief für Besiktas sehr hektisch. Das Team ging als Spitzenreiter in den 30. Spieltag. Aber nach vier aufeinanderfolgenden Spielen ohne Dreier musste man sich mit dem dritten Tabellenplatz zufriedengeben. Zum Saisonende verließ Coach Slaven Bilic die Schwarz-Weißen Richtung West Ham United um seinen eigenen Träumen nachzugehen. Die „Schwarzen Adler“ hingegen suchten nach einer Person, die ihre verletzten Flügel heilen konnte. Der Kader, der in der „Feda-Saison“ mit Söhnen von türkischen Gastarbeitern aus Europa aufgebaut und im Anschluss mit erfahrenen ausländischen Spielern ergänzt wurde, musste nach drei Spielzeiten als Tabellendritter endlich liefern. Unter Bilic hatten die Profis gelernt, wie sie miteinander agieren und reagieren müssen. Jetzt brauchten sie eine Persönlichkeit, die ihnen mehr Selbstvertrauen einhaucht und mehr Freiheiten gibt. Senol Günes war somit zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Günes setzt die Messlatte hoch – viel Verantwortung für Avci
Der jetzige Nationaltrainer trug sich sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene in die Geschichtsbücher von Besiktas ein. Doch stieg der Altersdurchschnitt des Kaders in den vergangenen beiden Jahren erheblich an. Die stetige Transferzirkulation führte zu einer großen Unruhe innerhalb der Spielergruppe, so dass die Ergebnisse auch nicht mehr stimmten. Die Zeit war reif für eine Veränderung und Günes machte Platz. Allerdings war diesmal das Problem, dass alles neu aufgebaut werden musste. Was wiederum für den neuen Trainer bedeutete, dass es nicht so leicht werden würde, wie noch vor vier Jahren beim Amtsantritt von Günes. Avci übernahm das Zepter beim 15-maligen Meister. Der 56-Jährige ist einer der wenigen Coaches innerhalb der Liga, der in den deutschen Medien gerne als „Konzepttrainer“ bezeichnet wird. Der frühere türkische Nationalcoach glaubte an die Wichtigkeit einer starken Vereinsstruktur und hatte beim Ligarivalen Medipol Basaksehir mit dieser Strategie sehr harmonisch gearbeitet. Unter diesen Aspekten erschien er als der richtige Mann für Besiktas. Aber der Vorstand bei den Istanbulern, der eigentlich die neuen Ziele des Vereins festlegen sollte, hatte schon längst seinen Zenit überschritten und überließ Avci innerhalb kürzester Zeit die ganze Verantwortung.
Die Strategieplanung im türkischen Fußball – eine reine Katastrophe
Überall auf dieser Welt muss ein Angestellter eines Vereins über die Ziele des Klubs informiert werden. Und dafür muss im Vorfeld eine Strategieentwicklung in die Wege geleitete werden. Aber warum auch immer, übernimmt diese Verantwortung im türkischen Fußball keine Menschenseele. Dementsprechend sind die Ziele und die erwünschten Ergebnisse immer nur kurzfristig angelegt. Die größte Problematik hierbei ist, dass alle vorhandenen Mittel und Ressourcen für dieses Vorhaben aufgebraucht werden. Es werden sogar nicht vorhandene Geldquellen genutzt (Verschuldung!). Doch wenn das Ergebnis nicht stimmt, gibt es immer einen Schuldigen – den Trainer.
Vom Labor in den Dschungel
Avci hingegen arbeitete über Jahre hinweg in einem gesunden Umfeld. Seine interne Beschwerde lag allerdings darin, dass sein Arbeitgeber keine Historie und somit auch keine Kultur zu bieten und somit keinen starken Rückhalt im Fanlager und in der Öffentlichkeit hatte. Eigentlich war das für ihn ein Vorteil – man würdigte seine Arbeit mit dem Glauben an die Weiterentwicklung durch die Zeit. Außerdem gab man ihm den nötigen Freiraum – in sämtlichen Belangen. Doch genau diese Umstände wurden für ihn ein Hindernis, um etwas Zählbares herauszuholen. Letztendlich gab er sich geschlagen und unterschrieb bei Besiktas, wo er seiner Meinung nach die nötige Leidenschaft gefunden hatte, die ihn zu Erfolgen führen würde. Fünf Jahre lang hatte Avci in einem sehr sterilen Umfeld – quasi in einem Labor – gearbeitet. Und nun gab er sich seiner Leidenschaft hin und fand sich auf einmal im Dschungel wieder.
Fehler: Avci wollte Unterstützung
Den ersten Fehler machte er aber bereits in seiner ersten Pressekonferenz vor der Saison: „Ich verlange von den Fans nicht Zeit oder Geduld, sondern Rückendeckung.“ Eigentlich war das wichtigste, was er benötigte, aber Zeit. Avci hat zunächst tatsächlich gedacht, dass er da weiter machen kann, wo er bei den „Eulen“ von Basaksehir aufgehört hat. Allerdings übersprang er in seinen Planungen einen ganz wesentlichen Punkt. In den letzten fünf Jahren hat er in einem äußerst ruhigen Umfeld eine Spielstrategie entwickelt. Besiktas konnte ihm allerdings weder die Kapazitäten, die benötigte Zeit noch die gewünschten Spieler zur Verfügung stellen. Der gebürtige Istanbuler hatte eine Mannschaft im Kopf, die über lange Zeit den Ball besitzt, sich in der gegnerischen Hälfte festsetzt und im engen Raum spielerisch nach Lösungen sucht. Doch weder der übrig gebliebene Spielerkader von der vergangenen Saison noch die neu dazugestoßenen Spieler im Sommer waren seinen Vorstellungen entsprechend.
Atiba Hutchinson – der einzige Rückhalt
Außer dem etatmäßigen Flügelspieler Jeremain Lens transferierte der BJK-Vorstand um Ali Naibi drei weitere Außenbahnspieler: Georges-Kevin N’Koudou, Tyler Boyd und Abdoulay Diaby. Alle vier sind aber Spieler, die nur mit viel Raum zur Geltung kommen. Ganz vorne war man mit dem klassischen Stürmer Burak Yilmaz, der allerdings im Spiel ohne Ball und im Umschaltspiel sehr viele Defizite aufwies, sehr schwach aufgestellt. In der Kreativzentrale hingegen konnte Adem Ljajic, DER Spieler der letzten Saison bei Besiktas, den Vorstellungen von Avci auf dem Platz nicht gerecht werden. Ein weiterer Kandidat, der für Spielwitz sorgen könnte, hieß Oguzhan Özyakup. Der einstige Stammspieler und Kapitän der „Schwarzen Adler“ hatte aber seit einem Jahr nicht mehr wirklich gekickt. Außer Victor Ruiz taten sich zudem die Verteidiger und auch Torwart Loris Karius enorm schwer im Spielaufbau. Um es kurz zu fassen: Atiba Hutchinson war mit seinen 36 Jahren der einzige Rückhalt und die Absicherung von Avci.
Kein Unterschied zu Manchester City
Trotz diesen Umständen versuchte Avci seinen Plan „durchzuwürgen“. Gökhan Gönül und Caner Erkin, die eigentlich Außenverteidiger sind, spielten als rechter Verteidiger beziehungsweise linker Sechser. Vorne hingegen spielten die Flügelspieler eher auf einer Linie um somit mehr Raum zu schaffen. Die zwei eigentlichen zentral agierenden Spieler setzten sich in den Korridoren ab und bildeten somit einen Angriff bestehend aus fünf Spielern. Wenn man in Ballbesitz war, erkannte man von der Formation her ein 3-5-2, was im Grunde keinen Unterschied zu Manchester City aufwies. Die Parzellierung auf dem Platz war vielleicht ähnlich, aber im Spielfluss war man höchstens eine schlechte Imitation der Guardiola-Truppe. Außer der ersten Halbzeit gegen Caykur Rizespor war das Ganze eine reine Katastrophe. In der Liga konnte man aus den ersten sechs Spieltagen nur mickrige fünf Punkte herausholen, was wiederum den schlechtesten Saisonstart aller Zeiten bedeutete. In dieser Zeit bekam man zudem in vier Auswärtspartien, inklusive der Begegnung bei Slovan Bratislava, 14 Gegentreffer.
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Avci handelte gezwungenermaßen
Somit musste Avci in irgendeiner Art und Weise handeln. Auch wenn in seinem Kopf eine Mannschaft war, die über den Ballbesitz zum Erfolg kommen sollte, besaß er eine Truppe, die lediglich das Umschaltspiel einigermaßen spielen konnte. Im Oktober fing er an seinen Plan zu ändern und begann bei den Außenverteidigern. Danach stellte er mit Atiba Hutchinson und Mohamed Elneny zwei erfahrene Sechser vor die Abwehr, die für Sicherheit sorgen sollten. Die Strategie änderte sich – die Verteidigung stand tiefer und die Spielidee war, auf dem kürzesten Weg in Tornähe zu kommen. Hat aufgrund dieser Maßnahmen Besiktas angefangen überragend aufzutreten? Nein. Aber Avci hatte sein System den Spielern angepasst und konzentrierte sich auf das Ergebnis. Daraus resultierten sieben Siege aus acht Begegnungen und man fand sich auf einmal auf dem zweiten Tabellenplatz hinter Demir Grup Sivasspor wieder. Das Qualitätsproblem in der Offensive bereitete dem früheren Basaksehir-Coach allerdings weiterhin starke Kopfschmerzen.
Besiktas mangelt es an Produktivität
Am 15. Spieltag machten sich die alten Schwächen aber wieder bemerkbar. Gegen Btc Türk Yeni Malatyaspor, die extrem defensiv spielten, musste man gegen den eigenen Willen die Spielkontrolle und den Ballbesitz an sich reißen. Und so erlitt die Truppe von Avci wieder einmal ein Produktivitätsproblem. Zum Ende der Begegnung kassierte man dazu auch noch zwei Kontertreffer und musste nach langer Zeit wieder eine Heimniederlage in der Liga einstecken. Eine Woche später im Derby gegen Fenerbahce war der Auswärtsplan des 56-jährigen Übungsleiters ein Spiel ohne Ball. Aber durch das hohe Tempo und dem starken Druck von Fenerbahce schaffte es die Truppe nicht einmal einen Konter zu fahren und verlor erneut. Im letzten Spiel der Hinrunde ruderte Avci zurück und ließ seine Spieler wie zu Beginn der Saison auftreten. Das 3-5-2 tat aber den Hausherren wie erwartet nicht gut. Trotz der zwei Feldverweise für den Hauptstadt-Vertreter Genclerbirligi wirkten die Avci-Schützlinge überfordert. Erst ein Treffer nach einem ruhenden Ball kurz nach dem Pausentee war der Schlüssel zum Erfolg.
Avci wiederholt sich wie Fatih Terim und wird entlassen
Viele Galatasaray-Fans hatten sich in dieser Saison über ihren Coach Fatih Terim aufgeregt, da dieser wie bereits eine Saison zuvor die gleichen Phrasen wiederholte. Der „Imperator“ sagte, dass manche Spieler ihre letzte Chance gehabt hätten oder versprach einen Umbruch im Sommer beziehungsweise im Winter. Bei Avci war es ähnlich in Bezug auf das Produktivitätsproblem. „Wir überqueren locker den Platz und erreichen ohne Probleme den gegnerischen Strafraum. In den letzten 20 Metern liegt es aber an der individuellen Qualität der Spieler ein Tor zu machen“, so der Coach mehrmals nach Spielen in dieser Saison. Wenn im Winter keine Spieler verpflichtet werden sollten, die den Stolperstein bezüglich der Qualität in der Offensive beheben können, dann hätte man auch kein anderes Besiktas in der Rückrunde zu erwarten gehabt. Wenn man auch noch das Budgetlimit vom TFF in Betracht zieht, dann erlosch im Grunde auch der letzte Hoffnungsschimmer. Vielleicht hätte es ja dem Vorstand um Präsident Ahmet Nur Cebi gelingen können das aus der Welt zu schaffen. Oder aber Avci hätte Wunder auf dem Trainingsplatz schaffen müssen. Beides wurde keine Realität. Zuerst verabschiedete man sich nach der Heimniederlage gegen Tabellenführer Demir Grup Sivasspor sang- und klanglos vom Titelrennen. Danach musste man im Pokalachtelfinale gegen Zweitligist BB Erzurumspor den Kürzeren ziehen, was letztendlich das Fass zum überlaufen brachte. Im Zuge dessen wurde die Zusammenarbeit am Freitagabend nach sechs Monaten vorzeitig beendet.
Fazit: Avci hat ein Timing-Problem
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, gilt nicht nur im normalen Alltag, sondern ist auch im Fußball von großer Bedeutung. Und man muss einsehen, dass manche Menschen ein Händchen oder einen Riecher dafür haben. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Günes die vielleicht besten Generationen des Landes zu einem Turnier geführt hat beziehungsweise in diesem Sommer noch führen wird. Genauso war es kein Zufall, dass Günes zur besten Zeit im Jahre 2009 zu Trabzonspor zurückgekehrt ist oder 2015 Besiktas zur richtigen Zeit übernommen hat. Deshalb können wir auch mit Leichtigkeit behaupten, dass der jetzige Nationaltrainer in der jüngsten Vergangenheit der wohl beste türkische Trainer überhaupt ist. Avci hingegen ist in dieser Hinsicht ein schlechtes Vorbild beziehungsweise Beispiel. 2011 war es die falsche Entscheidung die Nationalmannschaft zu übernehmen. Acht Jahre später war es im vergangenen Sommer erneut die falsche Entscheidung bei Besiktas zu unterschreiben, wo er wieder einmal nicht erfolgreich war. Wenn man das Erlebte aber gut analysieren und verarbeiten kann, dann ist kein Erfolg nicht unbedingt schlecht. Wie es einst Marcelo Bielsa, der stets mit Erfolglosigkeit konfrontiert wurde und immer noch wird, sagte: „Ich denke, dass in meinem Leben stets die Momente in denen ich erfolglos war, mich erwachsen werden ließen. Erfolg führt dazu, dass man sich verändert, nachlässt und sich im Grunde betrügt. Erfolglosigkeit hingegen ist konstruktiv und macht einen stärker.“ Nun ist es an der Zeit, dass Avci eine gründliche Evaluation durchführt..